Flüchtlinge im Libanon : Ein Land vor der Zerreißprobe
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In der neuen Heimat angekommen: Eine syrische Flüchtlingsfamilie am Ramlet-al-Bayda-Strand in der libanesischen Hauptstadt Beirut Bild: AP
In manchen Städten des Libanons gibt es fast so viele Flüchtlinge wie Einheimische. Noch gelingt es dem Land, ein Übergreifen des Kriegs aus Syrien zu verhindern. Wie lange?
Tyrus, die größte Stadt im südlichen Libanon, platzt aus allen Nähten. In der Hafenstadt der Phönizier wohnen nicht nur 180.000 libanesische Staatsbürger. Seit der Vertreibung der Palästinenser nach der Gründung des Staates Israel leben in drei Lagern im Umkreis der Stadt auch 70.000 palästinensische Flüchtlinge. Weitere 50.000 syrische Flüchtlinge haben seit dem Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland vor vier Jahren Zuflucht in Tyrus gefunden. Die Folgen: Seit dem vergangenen Sommer ist das Trinkwasser knapp, Strom gibt es nur noch vier Stunden am Tag. Syrische Kinder stellen mehr als die Hälfte der rund 1400 Grundschüler in der Stadt – für sie wurde eigens eine Nachmittagsschicht eingerichtet.
Dennoch entladen sich in der Stadt keine Spannungen. „Wir Libanesen sind wie Kautschuk“, sagt der Bürgermeister Hassan Dabuq in seinem einfachen Büro im zweiten Stock eines unauffälligen Hauses am Rande der Altstadt. „Man schlägt uns, und wir absorbieren jeden Schlag.“ Auch der Arbeitsmarkt scheint die vielen billigen Arbeitskräfte zu absorbieren. In den Geschäften und den 49 Kiosken am langen Sandstrand sind die meisten Verkäufer Syrer, erkennbar an ihrem Dialekt. Sie bedienen auch in den Restaurants. Im Winter arbeiten sie auf dem Bau, im Sommer waren sie auf den Feldern. „Mit den Libanesen stehen die Syrer nicht im Wettbewerb“, sagt der Bürgermeister. Wohl aber mit den Palästinensern. Und die beklagen sich über einen unfairen Wettbewerb. Denn sie müssen sich und ihre Familien allein von dem ernähren, was sie verdienen.
Die Kreditkarte für Lebensmittel gibt es nicht mehr
Die Syrer bekamen bis vor einigen Monaten von den Vereinten Nationen eine Kreditkarte, mit der sie im Monat für 22 Dollar Lebensmittel einkaufen konnten. Das ist inzwischen nicht mehr so. Deshalb packten im Sommer viele ihr bescheidenen Habseligkeiten und machten sich auf den Weg nach Deutschland. „Die Türkei öffnete ja ihre Grenzen, um Druck auf Europa zu machen“, sagt Bürgermeister Dabuq. Auch das habe viele zum Gehen bewegt.
Hinter seinem einfachen Schreibtisch hängt nicht das obligate Porträt des Staatspräsidenten – denn der Libanon hat seit dem 31. Mai 2014 keinen mehr. „Da wir keine Regierung haben, kann der Libanon den Flüchtlingen nicht die gleiche Unterstützung wie Jordanien oder die Türkei geben.“ Vielmehr hängt an der Wand ein Porträt des Vorsitzenden der schiitischen Amal-Bewegung, Nabih Berri. Die Region um Tyrus ist zwar schiitisch, sie war aber immer das Herzland der säkularen schiitischen Linken mit einer starken christlichen Minderheit. Hier lebte der linke Palästinenserführer George Habash. Keine Chancen hat hier die radikale Hizbullah, die in Syrien auf der Seite des Assad-Regimes kämpft. Auch deshalb ist in Tyrus – trotz der vielen sunnitischen Syrer, die vor dem Regime geflohen sind – nichts von dem nahen Bürgerkrieg zu spüren.
Ganz anders ist die Stimmung in Tripoli. In der großen Hafenstadt im Norden des Libanons stellen die Sunniten die Mehrheit. Misbah Ahdab, ein gemäßigter sunnitischer Politiker, der die Stadt lange als Abgeordneter im Parlament von Beirut vertreten hatte, beklagt eine schleichende Radikalisierung der Sunniten. Bereits seit einem Jahrzehnt vernachlässige die Regierung die Hafenstadt, aus den Golfstaaten aber fließe viel Geld. Radikale Scheichs wie Salem al Rafii verfügen über Dutzende von Millionen Dollar, um Waffen zu kaufen, Jugendliche in Banden an sich zu binden und sie in den Krieg nach Syrien zu schicken.
In Tripoli gebe es eine radikale Grundströmung
In der Stadt entfachen immer wieder Kämpfe zwischen radikalisierten Sunniten und Alawiten, die zur selben Religionsgemeinschaft wie der syrische Machthaber Baschar al Assad gehören. Zudem treibt der syrische Geheimdienst in Tripoli weiter sein Unwesen. In der Schlussphase des libanesischen Bürgerkriegs, der 1990 endete, hatte er mit seinen Manipulationen dafür gesorgt, dass ein radikalislamisches „Emirat Tripoli“ ausgerufen wurde, was die Stadt international in Verruf gebracht hatte.
Ahdab bestreitet, dass es in Tripoli eine radikale Grundströmung gebe. Vielmehr macht er wirtschaftliche Gründe für die aktuelle Radikalisierung verantwortlich. In Tripoli und noch mehr im Rest des Landes seien die meisten libanesischen Sunniten gemäßigt, anders als viele ihrer Glaubensbrüder in Syrien. Viele sind Geschäftsleute und daher nicht an Konflikten interessiert; sie sind im Libanon Teil der politischen Ordnung und nicht wie im Irak und in Syrien ausgeschlossen. Nach Syrien gingen daher erstaunlich wenige libanesische Sunniten, um sich dort dem „Islamischen Staat“ anzuschließen.
Und doch verändern sich die Sunniten. Auch Ahdab sagt, verfolgt würden heute die Sunniten, und verweist auf Syrien und den Irak. Im Libanon fühlen sie sich seit der Ermordung ihres wichtigsten Führers, Rafiq Hariri, im Jahr 2005 verwundbar. Zumal gegenüber der militärischen Macht der schiitischen Hizbullah, die sich nicht dem staatlichen Gewaltmonopol unterordnet. Immer mehr Sunniten wenden sich von Hariris Sohn und Nachfolger, Saad Hariri, ab, der als schwach gilt. Sympathien hat ihn zuletzt gekostet, dass er sich für Tony Franjieh als Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten eingesetzt hat. Franjieh ist einer der wichtigsten Fürsprecher Assads im Libanon.
Flüchtlinge dürfen im Libanon offiziell nicht arbeiten
Im Nordlibanon nehmen um Tripoli, der Hochburg der Sunniten, die Spannungen zu. Im Nordwesten, an der Grenze zu Syrien, hat die syrische Nusra-Front sogar eine Enklave für sich geschaffen. Sie grenzt aber an schiitisches und christliches Gebiet, kann sich daher nicht ausweiten. Doch in den zahlreichen Palästinenserlagern könnten sunnitische Extremisten zur Gefahr werden. Jeder zehnte Bewohner des Libanons lebt in einem solchen.
„Die Lager waren bereits überfüllt, als in Syrien der Krieg begann“, sagt Sylvia Haddad vom christlichen Hilfswerk „Joint Christian Committee for Social Service in Lebanon“ (JCC), das in den Lagern Schulen betreibt. Dann kamen Wellen von Palästinensern, die erst aus Palästina vertrieben worden waren und nun aus Syrien fliehen mussten, wo sie besser behandelt worden sind als die Palästinenser im Libanon. Als Folge stieg die Einwohnerzahl des Lagers von Ain Helweh nahe Sidon seit 2011 von 70.000 auf 120.000. Die neuen Flüchtlinge hatten nur wenig Geld dabei, und im Libanon dürfen sie offiziell nicht arbeiten. „Als die Hilfszuwendungen der UN gekürzt wurden, machten sie sich auf den Weg nach Europa“, sagt Sylvia Haddad.
Finanziert hätten sie die lange Reise, indem sie oft den Goldschmuck, der den Frauen als Sicherheit dient, verkauften. Haddad hat beobachtet, dass um die Lager weiter Menschenfänger warten, die die mittellosen Jugendlichen mit Geld ködern und sie mit dem Versprechen einer „Welt des Kalifats und eines starken Emirs“ an sich ziehen. „Mit nur wenig Geld könnte man die Flüchtlinge im Libanon halten und sie vor dem IS schützen“, sagt Haddad, die jedes Jahr kämpft, die Mittel für ihr Budget zusammenzubekommen. Die deutsche Hilfsorganisation Brot für die Welt ist ihr wichtigster Geldgeber.
Sunnitische Libanesen sehen Flüchtlinge als „Zeitbombe“
Die doppelte Belastung – palästinensische und nun auch mindestens 1,2 Millionen syrische Flüchtlinge – setzt dem Libanon zu. Der öffentliche Diskurs ist nicht gerade fremdenfreundlich, und viele Flüchtlinge leben unter unwürdigen Bedingungen. Der schwache libanesische Staat tut sich schwer, eine Strategie zur Integration der überwiegend sunnitischen Syrer zu entwickeln. Denn die meisten sunnitischen Libanesen wollen nicht, dass sie bleiben. Denn das brächte das sorgfältig austarierte Gleichgewicht unter den Christen, Sunniten und Schiiten durcheinander. Immer wieder fällt daher der Begriff „Zeitbombe“, wenn von den syrischen Flüchtlingen die Rede ist.
Anders als die Palästinenser in den Lagern sind die syrischen Flüchtlinge aber nicht bewaffnet, und die Sicherheitsdienste des Staats, die in dieser Frage eng und effizient mit denen der Hizbullah zusammenarbeiten, geben zu verstehen, sie hätten die möglichen Unruhestifter gut im Blick. Immer wieder heißt es, keine der großen Gruppen im Libanon sei an einer Rückkehr des Bürgerkriegs interessiert. Zwar unterstützen sie unterschiedliche Kriegspartei in Syrien, das wirkt sich im Libanon selbst aber nicht aus. Ein erstaunlicher patriotischer Konsens ist gewachsen, mit dem Wunsch nach einem libanesischen Staat und nach sicheren Grenzen, die von einer starken Armee geschützt werden. Selbst der Generalsekretär der Hizbullah, Hassan Nasrallah, hat ausgerufen, dass jeder, der kämpfen wolle, das bitte in Syrien machen solle.
Fürchten um die Zukunft der Christen im Libanon
Bewährt hat sich das Abkommen von Taif, mit dem 1989 das Ende des langen Bürgerkriegs eingeleitet worden war. Das Abkommen hat die vielen Kantone, in die das Land zerfallen war, wieder zu einem Staat zusammengeführt, und es sichert jeder Gruppe eine Teilhabe am Staat. Bei vielen Libanesen bestehen hingegen Zweifel, ob in Syrien bewaffnete Gruppen im Falle eines Sieges bereit sind, Minderheiten wie Christen, Alawiten und Drusen dies ebenfalls zuzugestehen.
Im Libanon sind die Christen weiter ein den Muslimen gleichberechtigter Partner. Das Land ist das einzige in der arabischen Welt, dessen Verfassung keine Staatsreligion vorschreibt und das ausdrücklich Religionsfreiheit zusichert. Führende christliche Intellektuelle fürchten jedoch um die Zukunft der Christen im Libanon. Sie verweisen auf den Irak, wo die Zahl der Christen in zwei Jahrzehnten von 1,5 Millionen auf weniger als 200.000 gefallen ist.
Als eine Gefahr gilt der blutige Konflikt zwischen den Sunniten und Schiiten in der islamischen Welt, als eine weitere das schnellere Bevölkerungswachstum bei den Muslimen, als eine dritte der gezielte Aufkauf christlichen Landes mit Geldern aus Saudi-Arabien und Iran. So sei der Küstenabschnitt von Beirut nach Sidon, wo einst viele Christen gewohnt hatten, heute Hizbullah-Land. Eine Hoffnung haben die libanesischen Christen: Jene, die im Zuge der Kriege das Land verlassen hatten – das sollen mit 12 Millionen etwa sechsmal so viele sein, wie derzeit im Libanon leben – können ihre libanesische Staatsangehörigkeit zurückerhalten. Ein weiterer Schritt soll ihnen ermöglichen, bei Wahlen ihre Stimme abzugeben. So sollen sie wieder an das Land gebunden werden. Dann könnte der Libanon ein Land mit vielen Gruppen bleiben, die sich gegenseitig respektieren, ein Land, das Spannungen trotz der Kriege im Nahen Osten aushält.