"Wenn jeder Staat glaubt, seine Grenzen hochziehen zu können, wird das sehr teuer", sagt Philipp Ther angesichts einer immer restriktiveren Flüchtlingspolitik. "Man kann nur hoffen, dass sich auch Österreich nicht aus seiner Verantwortung stiehlt."

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STANDARD: Ihr Buch "Die Außenseiter" legt offen, dass Europa in seiner Geschichte schon weitaus größere Fluchtbewegungen meisterte als die jüngste – hatten solche "Krisen" immer rechtspopulistische Aufschwünge zur Folge, wie wir es jetzt erleben?

Ther: Allein von der Zahl der Flüchtlinge her gab es in der Geschichte weitaus umfangreichere Fluchtbewegungen, die unter viel ungünstigeren Bedingungen stattfanden, zum Beispiel nach dem Zweiten Weltkrieg. Insofern muss man auch das Wort "Flüchtlingskrise" relativieren. Dabei war es in der Vergangenheit oft so, dass auf eine Phase relativer Offenheit wachsende Skepsis folgte, die dann umschlug in Ablehnung gegenüber Flüchtlingen. Doch es gab in der Geschichte auch bessere Zeiten für Flüchtlinge als jetzt, etwa während des Kalten Krieges.

STANDARD: Was funktionierte besser damals?

Ther: Die Aufnahme und die Integration von Flüchtlingen hat immer dann relativ gut funktioniert, wenn sich die Menschen mit den Flüchtlingen solidarisierten. 1956, während der Ungarnkrise, konnte sich Österreich positionieren als Land, in dem mehr Freiheit herrschte als hinter dem Eisernen Vorhang. Die Flüchtlinge wurden zunächst sehr bereitwillig aufgenommen, da hat man nicht näher nach den Fluchtmotiven gefragt. Es gab eine positive Vorannahme: Der Flüchtling ist ein Verfolgter und verdient unsere Solidarität. Diese klare Solidaritätslinie gibt es heute gegenüber Syrern oder anderen Flüchtlingen aus dem Nahen Osten nicht – obwohl die meisten entweder vor dem Gewaltregime von Assad geflohen sind oder vor dem Bürgerkrieg und dem sogenannten "Islamischen Staat".

STANDARD: Was wurde aus der vielzitierten Willkommenskultur?

Ther: Die ursprüngliche Solidarität, die es im Sommer und Herbst 2015 im Sinne des Humanitarismus gab, ist durch Abgrenzung überlagert worden. Damit wurde der Wahlkampf bestritten, und damit kann man offensichtlich auch Wahlen gewinnen. Meine größte Sorge zurzeit ist, dass sich eine Art Teufelskreis ergibt: Die zunehmende Ablehnung und Ausgrenzung von Flüchtlingen, die am Ende aber mangels Alternativen doch dableiben werden, führt dazu, dass es eine Gruppe gibt, die niemals wirklich ankommt.

STANDARD: ... und dazu verdammt ist, Außenseiter zu bleiben?

Ther: Genau. Wenn sich diese Gruppe womöglich auf einen Teil ihrer Wurzeln rückbesinnt und dann gerade in der Religion ihre Identität oder auch ihr Heil sucht, führt das dann zu weiterer Abgrenzung und erhöht damit die Skepsis unter der Mehrheitsgesellschaft.

STANDARD: Sie legen in Ihrem Buch Ihr Augenmerk darauf, die Geschichte der Flüchtlinge nicht bei ihrer Ankunft enden zu lassen, sondern danach fortzuschreiben. Welche Knackpunkte für gelungene Integration lassen sich aus historischen Fluchtbewegungen ableiten?

Ther: Ich untersuche Integration anhand verschiedener Bereiche: erstens die rechtliche Integration. Dazu sieht die Genfer Flüchtlingskonvention eine weitgehende Gleichstellung vor. Dann geht es um berufliche Integration – Stichwort Arbeitsmarkt – sowie um die lebensweltliche Integration, also inwieweit Flüchtlinge mit der bereits anwesenden Bevölkerung in Kontakt kommen, wo sie leben. Ein vierter Punkt ist die familiäre Integration bzw. das Heiratsverhalten und Mischehen. Aus historischer Sicht kann man feststellen: Es dauert, manchmal zwei, drei Generationen. Deswegen finde ich Angela Merkels Spruch "Wir schaffen das" insgesamt irreführend. Erstens: Wer ist "wir"? Wenn, dann müssen "sie" es schaffen, die Flüchtlinge. Zweitens: Wann soll das geschafft werden? Innerhalb einer Wahlperiode oder innerhalb von 20 Jahren oder im Wechsel der Generationen?

STANDARD: Stiehlt sich die Politik aus der Verantwortung, wenn man bedenkt, dass Europa im Umgang mit Flüchtlingen früher viel geeinter aufgetreten ist als heute?

Ther: Wenn man auf die europäische Ebene blickt, ist das sehr besorgniserregend. Während der besagten Ungarnkrise wurde ein System der internationalen Weiterleitung etabliert, das auch bei späteren Konflikten recht gut funktioniert hat. Letztlich ist von den Flüchtlingen von 1956 ein Zehntel in Österreich geblieben, die anderen wurden auf verschiedene Aufnahmeländer verteilt. Die heutige EU ist in Fragen der Lastenaufteilung wesentlich uneiniger als damals der Westen. Konkret betrifft das die Weiterleitung der Flüchtlinge, die nach wie vor in Italien und in Griechenland ankommen. Wenn jeder Staat glaubt, seine Grenzen hochziehen zu können, dann wird das sehr teuer. Es ist zu befürchten, dass es zu wirtschaftlichen Einbußen kommen wird, etwa im Handel und im Tourismus.

STANDARD: Europa versucht das Problem mit dem Türkei-Deal abzumildern, um so einen Teil der "Last" erst gar nicht aufnehmen zu müssen. Ist das die bessere Lösung?

Ther: Indem man das Abkommen als "Deal" bezeichnet, wird es im Grunde schon abgewertet. Auch wenn man die Politik von Recep Tayyip Erdogan (türkischer Staatspräsident, Anm.) kritisch betrachten sollte, vermisse ich eine konstruktive Haltung gegenüber der Türkei, die ja die meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Das verdient erst einmal Respekt. Natürlich kann man hinterfragen, was dort wirklich für die Flüchtlinge getan wird, doch das gilt ebenso für den Westen. Die sogenannte Flüchtlingskrise 2015 kam deswegen in Gang, weil in den Lagern in den Nachbarländern Syriens nicht einmal die Lebensmittelversorgung der Flüchtlinge aufrechterhalten werden konnte und das Flüchtlingshilfswerk UNHCR trotz Hilferufen keine entsprechende Finanzierung bekam. Das und die Perspektivlosigkeit haben dazu geführt, dass die Menschen weitergeflüchtet sind. Immerhin hat die Ankunft dieser gut einer Million Kriegsflüchtlinge dazu geführt, dass in Europa ein Umdenken begonnen hat, dass man nun viel mehr für die Flüchtlinge vor Ort tut. Das Abkommen mit der Türkei hat insofern einen vernünftigen Kern, dass ähnlich wie in dem alten System der internationalen Weiterleitung aus dem Kalten Krieg jetzt schon Flüchtlinge aus der Türkei aufgenommen werden, die diese Unterstützung brauchen. Das Problem ist nur, dass die Zahl derer, die auf legalem Weg aufgenommen werden, sehr gering ist.

STANDARD: Was bedeutet das?

Ther: Das bedeutet, dass man nicht verhindern kann, dass sich mehr Menschen in die Hände von Schleppern begeben und ihr letztes Vermögen dafür ausgeben, in sicheren Ländern anzukommen, und sich so die Situation der Flüchtlinge insgesamt massiv verschlechtert. Man darf nicht vergessen, dass die Kosten für die Flucht 2015 im Median nach aktuellen Untersuchungen ungefähr 5000 Euro pro Kopf betragen haben. Hochgerechnet auf die Syrer, die insgesamt in der EU angekommen sind, sind das ungefähr fünf Milliarden Euro. Diese Gelder fehlen jetzt als Startkapital, um hier oder auch später in der alten Heimat eine neue Existenz zu begründen. Man kann nur hoffen, dass die internationale Staatengemeinschaft umdenkt und sich auch Österreich nicht aus seiner Verantwortung stiehlt.

STANDARD: Die türkis-blaue Koalition plant aber einen massiven Aufnahmestopp.

Ther: Es ist zu erwarten, dass die Flüchtlingspolitik noch restriktiver wird. Wahrscheinlich entspricht das auch der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung, die man durch diesen Wahlkampf auch erst erzeugt und verstärkt hat. Aber dann sind die Probleme nur ausgelagert, zum Beispiel in die unmittelbare Nachbarschaft nach Italien. Auf Dauer kann das keine Lösung sein.

STANDARD: Kann die Geschichte eine Lösung bieten?

Ther: Aus der Geschichte lässt sich nur bedingt im wörtlichen Sinne lernen. Zurzeit ist es so, dass sich die Politik eher an Umfragen auszurichten scheint als an dem vorhandenen Fachwissen. Es geht mir nicht darum, eine moralische Position zu vertreten, was ja den vielfach geschmähten "Gutmenschen" unterstellt wird. Wobei man umgekehrt fragen könnte: Was passiert, wenn "Schlechtmenschen" das Sagen haben, wird es dann besser? Mein Hauptargument ist ein utilitaristisches. Die Aufnahme von Flüchtlingen bedeutet immer auch eine Chance für die Aufnahmeländer. Flüchtlinge wollen in der Regel ein neues Leben beginnen und haben in den meisten Fällen den Wohlstand vermehrt. Zurzeit steht auch die Arbeitsmigration in der Kritik, man muss aber daran erinnern, dass gerade Österreich durch die Öffnung der Grenzen 1989 profitiert hat. Im Moment ist mein Eindruck, dass die Voraussetzungen für die Integration von Flüchtlingen sehr ungünstig sind und wir als Gesamtgesellschaft einen Preis dafür werden zahlen müssen.

STANDARD: Welchen Preis?

Ther: Dass die Gesellschaft weiter auseinanderdriftet, dass sich die negativen Stereotype verstärken und sich tatsächlich so etwas wie eine Parallelgesellschaft und ein Substrat für eine neue Unterschicht bildet. (Karin Krichmayr, 10.12.2017)