Lilith, die berüchtigte Dämonin aus der jüdischen Mythologie, deren Wurzeln bis ins antike Mesopotamien zurück verfolgbar sind, hat viele Geschichten und Gesichter. In der Kabbala taucht sie unter anderem als erste Frau Adams auf, die sich weigert, sich ihrem Mann unterzuordnen und daraufhin das Paradies verlässt. Im Volksglauben wurde sie als Mörderin von Kindern sowie als Gefahr für Gebärende gefürchtet, wie aus Abwehrzaubersprüchen und -amuletten hervorgeht. Im babylonischen Talmud hingegen wird davor gewarnt, alleine in einem Haus zu schlafen, denn dann könne man von Lilith überfallen werden – wobei überfallen hier vor allem im sexuellen Sinne zu verstehen ist, denn Lilith wurden auch nächtliche Samenergüsse zugeschrieben. Kurz gesagt: Lilith verkörpert all das, was außerhalb der sexuellen Norm und der Grenzen der ihr auferlegten Rolle als Frau liegt.

Wie bereits im Blogbeitrag "Die Dämonin der Lust: Lilith in der jüdischen Religionsgeschichte" angedeutet, erschöpft sich die Wirkungsgeschichte Liliths jedoch keineswegs in ihrer Rolle innerhalb der jüdischen Mythologie. Vielmehr kann von zahlreichen Wiederentdeckungen der Dämonin in unterschiedlichen Kontexten und mit verschiedensten Konnotationen die Rede sein, je nachdem, aus welcher Perspektive und auf welche Aspekte der religionsgeschichtlichen Figur Bezug genommen wird. Wie viele andere mythologische Frauenfiguren erfuhr etwa auch Lilith eine kleine Renaissance in der Kunst und Literatur des 19. Jahrhunderts – ein oftmals wenig beachteter Aspekt ihrer Wirkungsgeschichte, der jedoch das Bild der Dämonin in medialen Darstellungen im 20. und 21. Jahrhundert eindeutig geprägt hat.

"Nimm dich in Acht": Lilith in Goethes Faust

Die wahrscheinlich berühmteste Darstellung Liliths in der Literatur des 19. Jahrhunderts ist eigentlich lediglich eine Nennung. Es handelt sich dabei um einige wenige Verse in Johann Wolfgang von Goethes "Faust. Der Tragödie erster Teil" – genauer gesagt um die Walpurgisnachtszene. In diesem mystischen, gefährlichen und sexuell hochaufgeladenen Setting, begegnen Faust und Mephistopheles Lilith. Konkret liest sich ihr kurzer Auftritt folgendermaßen:

Faust                           Wer ist denn das?

Mephistopheles           Betrachte sie genau!
                                    Lilith ist das.

Faust                           Wer?

Mephistopheles           Adams erste Frau.
                                    Nimm dich in Acht vor ihren schönen Haaren,
                                    Vor diesem Schmuck, mit dem sie einzig prangt.
                                    Wenn sie damit den jungen Mann erlangt,
                                    So läßt sie ihn so bald nicht wieder fahren.

Mehr erfahren wir über Lilith nicht an dieser Stelle. Klar ist aber, dass Goethe hier konkret die mythologische Figur der Lilith aufgreift und sich dabei auf die kabbalistische Tradition bezieht, sprich, die Vorstellung von Lilith als Adams erster Frau. Auch ihre Charakterisierung und die Beschreibung ihres Aussehens weisen deutliche Parallelen zum jüdischen Mythos auf: So wird etwa darauf hingewiesen, dass sie als Verführerin eine Gefahr für Männer darstellt. Besonders explizit werden in diesem Kontext ihre schönen Haare hervorgehoben: Ein Attribut, das auch in Beschreibungen der verführerischen Lilith innerhalb der rabbinischen Tradition oft eine große Rolle spielt.

"Faust and Lilith" beginnen ihren Tanz am Blocksberg. Gemälde von Richard Westall (1831).
Foto: Public Domain

Gefährliche Schönheit: Lilith bei den Präraffaeliten

Obwohl Lilith bei Goethe also nur mit einem Satz erwähnt wird, war diese Nennung allein aufgrund der immensen Breitenwirksamkeit von "Faust" von sehr großem Einfluss: Es gab wiederholt Bezüge auf die genannte Stelle und damit auf Lilith. So wurde sie schließlich auch von anderen Autoren aufgegriffen, wie beispielsweise von Thomas Mann in seinem Bildungsroman "Der Zauberberg". Aber auch Künstler interessierten sich für die Dämonin, ganz besonders etwa die Präraffaeliten, eine 1848 gegründete Gruppe britischer Künstler. Mythologische Themen im allgemeinen sowie Frauenfiguren aus unterschiedlichen Mythen waren beliebte Motive unter den Präraffaeliten – und dazu gehörte auch Lilith. Ein bekanntes Beispiel ist Dante Gabriel Rossettis Gemälde "Lady Lilith" (1868), bei dem es sich laut dem Künstler um die Darstellung einer modernen Lilith handelt. Dass sich diese dennoch direkt auf die Figur aus der jüdischen Mythologie bezieht, geht mitunter aus einem Sonett hervor, das Rossetti auf dem Rahmen des Bildes festgehalten hat:

Lady Lilith

Of Adam’s first wife, Lilith, it is told
(The witch he loved before the gift of Eve)
That, ere the snake’s, her sweet tongue could deceive
And her enchanted hair was the first gold.
And still she sits, young while the earth is old,
And, subtly of herself contemplative,
Draws men to watch the bright net she can weave,
Till heart and body and life are in its hold.

"Lady Lilith", Dante Gabriel Rossetti (1866-1868/1872-1873). Die Mohnblume soll für den Tod stehen.
Foto: Public Domain

Es handelt sich bei Rossettis Lilith um eine klassische Femme fatale, vor deren verführerischer Macht sich Männer in Acht nehmen sollten. Doch diese Zuschreibung ist nicht die einzige Eigenschaft, die Rossettis Lilith mit ihrer mythologischen Vorlage teilt. Auch ihre langen roten Haare, die im Gedicht als verzaubernd beschrieben werden, tauchen oft in den rabbinischen Texten zu Lilith auf. Abgesehen von den roten Haaren, finden wir bei Rossettis Lilith jedoch keine typischen Attribute historischer Darstellungsweisen und Beschreibungen des Dämonischen mehr, wie etwa tierisch-mischgestaltige Elemente. Vielmehr erscheint bei Rossetti das weibliche Böse in der Gestalt der Lilith, umgeben von weißen Rosen, als betörend schön – was zugleich ihre Gefahr ausmacht.

Die wahrscheinlich bekannteste künstlerische Darstellung Liliths stammt ebenfalls aus dem (erweiterten) Kreis der Präraffaeliten: John Colliers "Lilith" (1892), die auf den ersten Blick an die biblische Eva erinnern mag, ziert auch heute noch oftmals Buchcover und Internetseiten zu Lilith. Wie Rossettis Lilith sind auch hier ihre langen, roten Haare zentral. Nackt und umschlungen von einer Schlange – einem häufigen Attributtier weiblicher Dämoninnenfiguren, so auch Liliths – erinnert sie noch stärker an ihr mythologisches Vorbild als Rossettis "moderne" Lilith.

"Lilith" (1892) von John Collier zeigt die Verführerin mit der Schlange als Attributtier.
Foto: Public Domain

Von der Dämonin zur Femme fatale

Was bleibt also in der Literatur und Kunst des 19. Jahrhunderts übrig von der gefährlichen Dämonin Lilith? Oder anders gefragt: Zeigen die Beispiele überhaupt noch eine Dämonin? Flügel und Hühnerkrallen verschwinden zwar, zweifellos kommen aber zentrale Charakteristika der Lilith aus der jüdischen Mythologie bei den Darstellungen Goethes, Rossettis und Colliers zu tragen. Ganz besonders hervorzuheben ist dabei ihre Rolle als zügellose Verführerin. Sie entspricht somit bei den Präraffaeliten dem Typus der Femme fatale, die an einem Ende des Spektrums zweier möglicher viktorianischer Frauenrollen steht – im Gegensatz zum kränklichen, schutzbedürftigen Engel. Diese Rolle als Verführerin wird durch physische Attribute, wie langes rotes Haar, unterstrichen. 

Was übrig bleibt ist die starke Betonung der Gefahr, die von Liliths offensiver und grenzüberschreitender weiblicher Sexualität ausgeht. Zu einer feministischen Lesart ebendieser, die Lilith zu einem Symbol weiblicher Unabhängigkeit im jüdischen Feminismus aufstiegen ließ, sollte es erst in den 1960er- und 1970er-Jahren kommen. Doch auch jene Lilith, die uns heute in Film und Fernsehen begegnet, hat oft mehr gemein mit den gefährlichen Verführerinnen aus dem 19. Jahrhundert, als mit der feministischen Neudeutung der Lilith als unabhängige, selbstbestimmte Frau. (Kathrin Trattner, 29.11.2017)

Fortsetzung folgt.

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