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Rom-Erklärung und Verfassungskrise EU-Abgeordnete fordern harten Kurs gegen Polen

Der Streit zwischen der EU und Polen spitzt sich zu: Warschau droht mit einem Boykott der Rom-Erklärung, Europaabgeordnete fordern eine klare Antwort - bis hin zum Einsatz der "nuklearen Option".
Jaroslaw Kaczynski, Chef der polnischen Regierungspartei

Jaroslaw Kaczynski, Chef der polnischen Regierungspartei

Foto: Pawel Supernak/ dpa

Die EU hat derzeit eigentlich genug Probleme: In wenigen Tagen fällt der Startschuss für den Brexit, es drohen ein erneutes Aufflammen der Griechenlandkrise und der Bruch mit der Türkei, die USA könnten sich unter Präsident Trump von Europa abwenden. Und jetzt eskaliert auch noch der Streit mit Polen.

Denn am Mittwoch erklärte Frans Timmermans, Vizepräsident der EU-Kommission, das praktische Scheitern des vor mehr als einem Jahr begonnenen Rechtsstaatsverfahrens gegen Polen. Er kündigte an, nun die anderen EU-Mitgliedstaaten in den Streit um die Lähmung des polnischen Verfassungsgerichts einzuschalten.

Die polnische Regierung reagierte auf ihre Weise: Am Donnerstag drohte Ministerpräsidentin Beata Szydlo, die Erklärung von Rom zu torpedieren. Sie soll am Samstag bei der Feier zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge von den EU-Staats- und Regierungschefs unterzeichnet werden. "Sollte die Erklärung die für Polen wichtigen Themen nicht enthalten, werden wir sie nicht akzeptieren", sagte Szydlo dem polnischen Sender TVN.

Diplomaten reagierten irritiert auf den Vorstoß, denn der Text ist bereits zu Ende verhandelt - und wurde dabei auch an die Wünsche der polnischen Regierung angepasst. In Rom sollen die Staats- und Regierungschefs die Erklärung nur noch verabschieden, Verhandlungen sind dort nicht mehr vorgesehen.

Polen steht vor allem der Idee eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten skeptisch gegenüber. Eine Mehrheit der EU-Staaten, darunter Frankreich und Deutschland, ist jedoch dafür, um der Union wieder ein schnelles Fortkommen zu ermöglichen. Der Ansatz findet sich auch im aktuellen Entwurf der Rom-Erklärung wieder, wurde allerdings auf Wunsch Polens bereits in der Wortwahl abgeschwächt.

Für erneute Verhandlungen fehle bis Samstag die Zeit, sagte ein EU-Diplomat. Sollte Warschau dennoch die Unterschrift verweigern, gebe es eine Notlösung: Statt der Staats- und Regierungschefs könnten die Präsidenten von EU-Kommission, Europäischem Rat und Europaparlament das Dokument unterzeichnen.

EU-Abgeordnete verlangen Artikel-7-Verfahren

Der Eklat wäre perfekt. Denn die Rom-Erklärung soll die Geburtsurkunde der neuen EU ohne Großbritannien sein. Sollte es nicht zur Unterzeichnung durch die Staats- und Regierungschefs kommen, hätte die EU unmittelbar vor der britischen Brexit-Erklärung aller Welt gezeigt, dass sie sich nicht auf eine gemeinsame Zukunft einigen kann.

Zwar hatte auch Griechenland mit einer Blockade der Rom-Erklärung gedroht. Das aber sei man aus Athen gewohnt, hieß es. Das Problem sei mithin lösbar. Die polnische Führung aber gilt als weniger berechenbar, bisweilen gar als irrational, wie sich zuletzt im Streit über die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk zeigte. Dass Jaroslaw Kaczynski, Chef der Regierungspartei PiS, Anfang der Woche auch für den Rom-Gipfel einen harten Kampf angekündigt hat, macht den EU-Partnern Sorgen.

Für die polnische Regierung droht ein derartiges Verhalten allerdings zum Bumerang zu werden. Manfred Weber (CSU), Chef der EVP-Fraktion im Europaparlament, fordert im Streit um das polnische Verfassungsgericht "ein klares Signal aus den Hauptstädten" zum weiteren Umgang mit Warschau. "Europa muss zu seinen Grundwerten stehen, und da kann es keine Rabatte geben."

Auch im Parlament droht eine Eskalation. Immer lauter werden dort die Forderungen, Artikel 7 des EU-Vertrags auszulösen. Diese "nukleare Option" sieht im Falle einer schwerwiegenden Verletzung der EU-Grundwerte vor, die Stimmrechte des entsprechenden Landes im Europäischen Rat auszusetzen. Polens EU-Mitgliedschaft wäre damit praktisch auf Eis gelegt.

Zwar ist dafür eine einstimmige Entscheidung der Staats- und Regierungschefs nötig, und Ungarn hat sein Veto bereits angekündigt. Allerdings gibt es vorher noch eine andere Möglichkeit: Im ersten Schritt des Artikel-7-Verfahrens kann der EU-Ministerrat eine "eindeutige Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung" der EU-Grundwerte feststellen. Dazu bedarf es keiner Einstimmigkeit, sondern nur einer Vierfünftelmehrheit der Minister. Die Abstimmung kann auch von der Kommission oder einer Zweidrittelmehrheit des EU-Parlaments beantragt werden.

Im April 2016 hatte das Parlament die polnische Regierung in einer Resolution scharf kritisiert. 513 der 751 Abgeordneten stimmten zu. Damit erscheint eine Zweidrittelmehrheit auch bei einer Artikel-7-Abstimmung möglich.

Polen droht der Geldentzug

"Angesichts seiner bisherigen Rhetorik hält sich das Europaparlament unnötig zurück", sagt der Grünen-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht. "Wenn man jetzt nichts macht, weckt man Zweifel daran, dass man es ernst meint. Das Parlament muss Farbe bekennen." Ähnlich äußerte sich Herbert Reul, Chef der CDU/CSU-Gruppe im Europaparlament. Man könne nicht einfach zulassen, dass die polnische Regierung mit ihrem bisherigen Kurs weitermache: "Regeln sind nichts wert, wenn man bei Verstößen nicht auch mal die Rote Karte zeigt."

Timmermans warnte jedoch, dass ein Artikel-7-Verfahren im Europäischen Rat scheitern könne. Zudem wäre die Kommission dann aus dem Spiel - während sich die Lage in Polen weiter verschlechtere. Anzeichen dafür gebe es bereits.

Der Rechtsstaatsdialog zwischen Kommission und Polen ist am Ende, die "nukleare Option" des Artikel 7 zu extrem - was also bleibt? Langfristig droht den Polen auch der Geldentzug. Der aktuelle EU-Haushalt endet im Jahr 2020, die Verhandlungen für den nächsten Siebenjahresetat laufen gerade an. Im Interview mit dem SPIEGEL hat EU-Justizkommissarin Jourova vorgeschlagen, die Auszahlung von EU-Geldern künftig von der Einhaltung rechtsstaatlicher Standards und der Grundwerte abhängig zu machen.

Für Polen wäre das ein harter Schlag: Das Land erhält derzeit rund ein Viertel aller EU-Gelder, sie machen mehr als zwei Prozent des polnischen Bruttoinlandsprodukts aus. Die SPD-Abgeordnete Birgit Sippel griff den Fördermittelentzug in der Fragerunde mit Timmermans als mögliche Lösung auf. Ihre Parteifreundin Sylvia-Yvonne Kaufmann stimmt nun zu: "Ich würde das unterstützen."


Zusammengefasst: Der Konflikt zwischen EU und Polen droht weiter zu eskalieren. Nachdem die EU-Kommission angekündigt hat, die anderen Mitgliedstaaten in den Streit um das polnische Verfassungsgericht einzuschalten, droht Warschau nun mit der Blockade der Erklärung von Rom am Samstag. Im EU-Parlament wächst die Bereitschaft zu harten Maßnahmen gegen Polens Regierung.