Erdogan definiert «richtige» Kunst

Kurz vor dem Verfassungsreferendum hat Präsident Erdogan die Kulturpolitik der «neuen Türkei» definiert. Wie gewohnt zeigte er keine Scheu vor heiklen Worten – diesmal war von «Entartung» die Rede.

Veronika Hartmann
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Den progressiven türkischen Kulturschaffenden wird die Luft knapp: Graffito im Istanbuler Quartier Kadiköy. (Bild: Mehmet Kacmaz / Nar Photo / Keystone)

Den progressiven türkischen Kulturschaffenden wird die Luft knapp: Graffito im Istanbuler Quartier Kadiköy. (Bild: Mehmet Kacmaz / Nar Photo / Keystone)

Wenn die türkische Fernsehserie «Dirilis Ertugrul» läuft, sind die Strassen Anatoliens wie leergefegt, und die Menschen versammeln sich vor der Mattscheibe. Über jeden dritten Fernseher der Türkei flimmern die neuen Folgen der blutrünstigen Geschichte von Ertugrul Gazi, dessen Sohn später das Osmanische Reich gegründet hat. Ein schauriger, doch exzellent inszenierter Historienschinken mit «Intrigen, Gefahren und Tod», wie die Website verspricht.

Grösster Fan ist kein Geringerer als Präsident Recep Tayyip Erdogan, er hat sogar das Set besucht und eingestanden, dass seine Enkelkinder keine Folge verpassen würden, ja nicht einmal die Trailer. Während des Kulturrats, der Anfang März in Istanbul stattfand, um im Vorfeld des Verfassungsreferendums die Weichen für die kulturelle Zukunft der «neuen Türkei» zu stellen, hat Erdogan erneut betont, wie wichtig solche Serien seien: Junge Menschen wie seine Enkel würden dadurch wieder für die «richtige Kunst und Kultur» gewonnen.

Kulturelle Dürre – für wen?

Was Präsident Erdogan als «richtige» Kunst und Kultur betrachtet, erklärte er ebenfalls ausführlich: «Ein Kulturverständnis ohne Moral führt uns höchstens in die Entartung», sagte er und fügte hinzu: «Das Ziel von Kunst und Kultur besteht darin, dass der Mensch geistige und moralische Reife erlangt.» Als dabei hinderlich betrachtet er den «Kulturimperialismus» aus dem Westen und findet, dass die Türkei sich auf ihre nationalen und einheimischen Werte besinnen sollte: «Wenn man heute bei einer Person auf Istanbuls Strassen nicht mehr anhand der Körpersprache, der Kopfbedeckung, der Schuhe und der Kleidung erkennt, welcher Kultur sie angehört, dann bedeutet dies, dass wir uns im Würgegriff kultureller Dürre befinden.»

Den «Würgegriff kultureller Dürre» fühlen Kunstschaffende in der Türkei tatsächlich – und zwar auch auf ganz andere als die von Erdogan gemeinte Art. «Wir werden immer konservativer», beschwert sich ein Istanbuler Galerist, der seinen Namen nicht genannt wissen möchte. «Wir werden von einem islamischen Regime regiert, auch wenn es offiziell nicht so genannt wird.» Das schränke auch die Kunstschaffenden ein, glaubt er: «Wenn die Regierenden von Kunst sprechen, dann meinen sie Frauen mit Kopftuch und bärtige Männer in Pluderhosen, die sich mit Makramee, Kalligrafie und Miniaturmalerei beschäftigen.»

Seit dem Jahr 2000, als er seine Galerie im edlen Istanbuler Stadtviertel Nisantasi gründete, hat sich viel verändert in der Kunstszene. Als Istanbul 2010 Kulturhauptstadt Europas war, gab es einen kurzen Hype, der aber nicht lange trug. Hauptgrund dafür sei die mangelnde Verwurzelung der Kunst in der türkischen Kultur, meint der Galerist: «In Europa leben die Menschen mit der Kunst, besuchen Museen und Ausstellungen, vermitteln sie ihren Kindern und machen sogar Kunsttherapie.» In der Türkei sieht das tatsächlich anders aus: 49 Prozent der Menschen seien noch nie im Kino gewesen, 39 Prozent hätten noch nie ein Buch gelesen und 66 Prozent noch nie einen Konzertsaal, ein Theater oder die Oper besucht, ergab eine Studie des Umfrageinstituts Ipsos. Der Galerist gibt sich deswegen pessimistisch: «Etwas, das keine Wurzeln hat, kann auch keinen Bestand haben.»

Nicht erst seit dem Kulturrat ist offensichtlich, dass Kultur in der Türkei ein Politikum ist. «So ein Monstrum, das muss weg», befand Präsident Erdogan schon 2011 über das Monument «Menschlichkeit» des Bildhauers Mehmet Aksoy, und kurz darauf wurde die Plastik, die als Mahnmal für den Frieden mit Armenien an der Grenze zum Nachbarland auf einem Hügel stand, scheibchenweise abgetragen. Nachträglich erhielt Aksoy Schadenersatz.

Als «Monstrum» deklariert und zerstört: Mehmet Aksoys Skulptur «Menschlichkeit». (Bild: Mehmet Aksoy / AP)

Als «Monstrum» deklariert und zerstört: Mehmet Aksoys Skulptur «Menschlichkeit». (Bild: Mehmet Aksoy / AP)

Das Modell machte Schule: Stadtverwaltungen lassen Kunst aus dem öffentlichen Raum immer häufiger verschwinden, im günstigsten Fall im Depot. Es gibt auch immer wieder Medienberichte darüber, dass wütende Bürger gewaltsam Vernissagen sprengen oder Kunst attackiert wird. Vielleicht ist das aber auch ein Resultat der Bildungspolitik, die nicht auf Kreativität setzt, sondern auf das Tradieren von Auswendiggelerntem.

Bedrohte Freiheit

Die dänische NGO Freemuse veröffentlicht regelmässig Berichte über künstlerische Freiheit weltweit. Für die Türkei gab es im Jahr 2016 ein trauriges Zeugnis: Es soll 23 ernstzunehmende Rechtsverletzungen in Bezug auf die künstlerische Freiheit gegeben haben, 11 Kulturschaffende, beispielsweise der Autor Ahmet Altan, sind in Haft, 3 Künstler und ihre Werke wurden angegriffen und 2 weitere bedroht. 13 wurden zensiert. Damit steht die Türkei im von Freemuse erstellten Ranking repressiver Staaten nach Iran an zweiter Stelle.

Die türkische Gesellschaft ist nicht auf der Suche nach mehr Offenheit, mehr Demokratie und Pluralismus. Darauf weist zumindest der Ausgang des Verfassungsreferendums vom 16. April hin. Fast die Hälfte der Menschen wünscht sich offensichtlich ein starres Staatskorsett. «Wir unterscheiden uns aufgrund unserer zivilisatorischen Erfahrungen, unserer historischen Vergangenheit und der Staatstradition von anderen Nationen», glaubt Präsident Erdogan. Er fügte hinzu, dass die «Grosse Türkei», die durch das Verfassungsreferendum entstanden sei, genau diesen Unterschied leben werde. Auch in Bezug auf die Kunst.

Nationalisten statt Nestbeschmutzer

Es gibt auch Kulturschaffende, die sich darauf freuen – so etwa der Bestsellerautor Iskender Pala. Jeden Tag werden 2000 seiner Bücher verkauft, rund 80 hat er geschrieben: historische Romane, angesiedelt auf dem Boden der heutigen Türkei oder des Osmanischen Reiches. Pala war aktiv am Kulturrat beteiligt und teilt die Angst des Präsidenten vor Kulturimperialismus, auch wenn er ihn nicht als solchen bezeichnet. Er setzt grosse Hoffnungen darauf, dass Erdogan die Kulturpolitik zur Chefsache erklärt hat: «Warum sollte die Türkei, die stets nur Kultur importiert hat, nicht auch Kultur exportieren?», fragt er.

Das tut sie zwar durchaus – der Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk oder der Komponist und Pianist Fazil Say sind weltberühmt, aber in Palas Augen sind sie keine glaubwürdigen Akteure: Eine echte Kunstströmung, die ihren Ursprung im Orient oder in der Türkei hätte, würde der Westen seiner Meinung nach niemals zulassen. Für patriotische Türken gelten die beiden sogar als Nestbeschmutzer: Pamuk musste sich wegen «Beleidigung des Türkentums» vor Gericht verantworten, der Beethovenpreis-Träger Say wegen Blasphemie, nachdem er Verse des persischen Dichters Omar Chayyam, der um das Jahr 1100 lebte, über Twitter verbreitet hatte.

Pala definiert sich selber als konservativ und als Fan der AKP. Jahrzehntelang hat er mit angesehen, wie die Kulturszene von Linken bestimmt war, die sich über konservativ-religiöse Künstler hinwegsetzten und lustig machten. Stattdessen, so hofft er, wird es jetzt eine «Nationalkultur» geben, die nicht verwestlicht ist. In seinen Augen gibt es genug Kulturgut, auf das sich die Türkei besinnen kann: «Nicht die Griechen haben die Demokratie erfunden, 3000 Jahre vor Athen lebte man in Babylon bereits die Demokratie. Weltweit wird heute römisches Recht studiert, dabei gab es noch davor den Codex Hammurabi» – Indizien für Pala, dass der Westen eine grosse «Wahrnehmungsoperation» durchführt, um das Ansehen der Türkei zu schmälern.

Dabei wird der kulturelle Ruhm der Türkei in den Augen des Westens faktisch in erster Linie dadurch geschmälert, dass Künstlerinnen und Künstler Angst vor Angriffen oder Haft haben müssen. Vom Okzident aus betrachtet, ist es die Türkei selber, die ihre Künstler fesselt und knebelt, nicht die europäische Kulturherrschaft.

Fatales Lob der Dichtkunst

Vom Zusammenhang zwischen Kunst und Politik kann Präsident Erdogan persönlich ein Lied singen. Immerhin verbüsste er eine mehrmonatige Haftstrafe für das Verlesen eines Gedichts: Durch seinen Vortrag von Versen des türkischen Dichters Ziya Gökalp habe er «Hass und Feindschaft» gesät, befand 1998 ein Gericht. Wer weiss? Vielleicht war das der Moment, in dem sich der Gründer der «neuen Türkei» darauf verlegte, lieber Fernsehserien über das martialische Erbe der Osmanen zu loben als die Dichtkunst.

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