Das Diktat der falschen Toleranz

Wie in der gegenwärtigen Zeit der Krisen der Westen gegen Irrationalität und Unmenschlichkeit kämpfen muss. Es braucht dazu ebenso vernunfterprobte wie mutige Bürgerinnen und Bürger.

Carlo Strenger
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Einspruch wagen: Wo Kinder zwangsverheiratet, Mädchen beschnitten oder Homosexuelle öffentlich gehängt werden, darf der Westen nicht schweigen. (Bild: Prakash Hatvalne / AP)

Einspruch wagen: Wo Kinder zwangsverheiratet, Mädchen beschnitten oder Homosexuelle öffentlich gehängt werden, darf der Westen nicht schweigen. (Bild: Prakash Hatvalne / AP)

Wir leben in einer Zeit der Krisen. Sie lassen sich datieren. Sie wirken nach. Und ihre Wirkungen kumulieren sich in der Gegenwart – hier und jetzt. Am 11. September 2001 wurde klar, dass der Westen gegen den Zorn des radikalen Islams nicht immun ist. 2008 war unklar, ob das globale Finanzsystem den selbstinduzierten Verwerfungen standhalten würde, und heute ist ungewiss, ob der Euro die verschiedenen Schuldenkrisen der EU-Staaten überleben wird. 2013 begann sich eine Flüchtlingskrise abzuzeichnen, die erst durch den syrischen Bürgerkrieg in die Schlagzeilen und ins Bewusstsein westlicher Wohlstandsbürger geriet.

Terror

Und schliesslich kam es zur Terrorkrise: Trotz den Anschlägen in London 2004 und Madrid 2005 lebten Europas tonangebende Politiker im Glauben, der Terrorismus würde nicht zu einem prägenden Faktor für hiesige Befindlichkeiten. Nach den Anschlägen auf «Charlie Hebdo» am 7. Januar 2015 bekam der Glaube indes das Antlitz einer Illusion. Die Terrormassaker vom 13. November 2015, wiederum in Paris, brachten die Illusion endgültig zum Platzen. Die über ein halbes Jahrhundert währende Epoche, in der Europa die meiste Zeit mit leicht überlegenem Lächeln auf die Krisenherde der Welt herabschauen konnte, ist zu ihrem Ende gekommen.

Die Kumulation dieser Krisen hat in Europa und in den USA eine noch zu wenig bedachte Konsequenz gezeitigt: Die Bürger sind verunsichert und suchen selbst da nach klaren, einfachen Antworten, wo keine zu haben sind. In solchen Momenten schlägt, wie immer in der modernen Geschichte, die Stunde der politischen Terribles Simplificateurs. Sie leben von der Bewirtschaftung der Angst und des Zorns, zweier der grundlegendsten menschlichen Emotionen.

Sie schüren diese, finden je nach Couleur geeignete Sündenböcke, teilen die Welt ein in Gut und Böse, Schwarz und Weiss. Die stilleren, differenzierenden politischen Kräfte werden immer weniger gehört – und verlieren an Gewicht. Die politische Polarisierung, die durch ein Land, eine Region, eine Stadt, zuweilen gar durch eine Familie geht, führt zu einer jederzeit leicht erregbaren gesellschaftlichen Grundstimmung. Und es entsteht der begründete Eindruck: Alles ist möglich, die politische Unberechenbarkeit steigt.

Verunsicherung

Wie ist dieser Rutsch zum extremen Populismus zu verhindern? Mir scheint es offensichtlich: Zum Teil ist die Schwarz-Weiss-Politik darauf zurückzuführen, dass die gemässigten, aufgeklärten politischen Kräfte von der Ideologie der politischen Korrektheit gelähmt sind. Sie trauen sich weder, irrationale, unmoralische und unmenschliche Positionen scharf zu kritisieren, noch sind sie bereit, westliche Werte und Normen prägnant zu verteidigen. Dies treibt die verunsicherten Bürger in die Hände rückwärtsgewandter nationalistischer Kräfte, die ihnen eine Sicherheit vorgaukeln, die nicht weniger illusorisch ist als die sozialdemokratische Utopie eines stets friedlichen Miteinanders.

Ich schlage für die aufgeklärten Kräfte, ob sozialliberal oder bürgerlich orientiert, ein argumentatives Mittel gegen Irrationalität und Unmenschlichkeit vor, das ich zivilisierte Verachtung nenne. Verachtung ist – erstens – dann und nur dann zivilisiert, wenn sie zwischen dem Träger einer Meinung und der Meinung selber strikt unterscheidet. Sie muss mithin stets gegen Glaubenssätze und Prinzipien gerichtet sein und nie gegen Menschen. Zweitens: Das grundlegende Recht zur Meinungsfreiheit bleibt auch für irrationale und unmoralische Meinungen gültig – uneingeschränkt. Drittens darf zivilisierte Verachtung nie das Ziel haben, Hass zu schüren oder Stereotypen zu stärken. Ihr Fundament ist die intellektuelle Redlichkeit.

Verachtung

Zivilisierte Verachtung ist eine zivilisatorische Fähigkeit, die nur unter Anstrengung zu erwerben ist und die, genauso wie körperliche Fitness, ständig des Trainings bedarf. Nur zu leicht können sich hinter Verachtung Fremdenhass, Ignoranz und der Wille verstecken, zu allem eine Meinung zu haben, ob diese nun auf Wissen gründet oder nur auf Vorurteilen und dem Wunsch, andere zu verachten. Warum aber ist zivilisierte Verachtung für die westliche Kultur so wichtig?

Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Europa auf die Trümmer seiner eigenen Geschichte zurückblickte, kamen viele zum Schluss, dass der Westen in einer endlosen Selbstgeisselung für die Sünden des kolonialistischen Imperialismus büssen müsse. Ein Teil dieser Busse bestand gemäss dieser Logik darin, die Aufklärung, welche die westliche Moderne geprägt hatte, als machthungrige europäisch-amerikanische Erfindung zu deklarieren und sie auf den Müllhaufen der Geschichte zu werfen.

Die moralische Abrechnung des Westens mit seinen Sünden war wichtig – aber sie hat zu einer fundamentalen Problemlage geführt: Vor lauter Vorsicht, nicht wieder imperialistisch zu agieren und zu denken, entwickelte sich die politische Korrektheit, ein radikal antiaufklärerisches Projekt in der Wirkung (wenn auch nicht in der Intention). Dieses Prinzip besagte, dass der Westen per definitionem nie berechtigt sei, andere Kulturen zu kritisieren, sondern ihren Glaubenssätzen und Lebensformen Respekt entgegenzubringen habe. Immer. Und überall.

Diese Idee gewann vor allem in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fakultäten westlicher Universitäten seit den 1970er Jahren rasant an Popularität – und gehört dort heute zum Mainstream. Das Resultat ist, dass die Universitäten Generationen von Studenten erzogen haben, die Angst vor der argumentativen Konfrontation haben. Sie sind so sehr darauf erpicht, andere nicht zu verletzen, dass sie ihre eigenen Grundwerte und Normen nicht mehr mutig verteidigen können. Viele vertreten aufgrund des eingeimpften Relativismus sogar die Überzeugung, solche Werte gar nicht mehr haben zu dürfen.

Fortschritt

Seien wir so ehrlich zu uns selbst: Der weltgeschichtliche Traum des universalen Fortschrittes und die Konvergenz aller denkbaren Gesellschaften zur liberalen Demokratie sind zu Ende. Aber das heisst eben gerade nicht, dass wir die wirklich grossen Errungenschaften der Aufklärung zusammen mit diesem Traum auf den Müllhaufen der Geschichte werfen sollten. Die Idee, dass Menschen frei sein sollen, ihr Leben nach bestem Wissen und Gewissen zu leben; dass es keinen Glaubenssatz, keine Religion, keine Doktrin und keine Institution gibt, die nicht kritisiert werden darf; und dass es die Offenheit zur Kritik ist, die der wissenschaftlichen Revolution und dem Fortschritt des menschlichen Wissens zugrunde liegt: Diese Ideen sind die grossen Errungenschaften des Westens. Sie sind es wert, verteidigt zu werden, auch wenn sie nicht universell akzeptiert werden – mit Blick auf alle Menschen, die nach wirtschaftlicher, politischer und intellektueller Freiheit streben.

Spannung

Diese Spannung gilt es auszuhalten. Wir dürfen nicht alle Kulturen als gleichwertig akzeptieren und mit relativistischer politischer Korrektheit erklären, dass es eben Kulturen gebe, die wie viele nordafrikanische Gesellschaften junge Mädchen der Beschneidung unterziehen; dass wir verstehen müssten, wenn Iran gemäss seinen religiösen Vorstellungen Schwule öffentlich hängt und Saudiarabien in einer strikten Auslegung der Scharia Apostaten zum Toden verurteilt. Wir dürfen nicht akzeptieren, dass in Thailand Menschen eingesperrt werden, weil sie sich über den Hund des Königs lustig gemacht haben, und dass in Russland Regimegegner ins Gefängnis geworfen werden oder auf mysteriöse Weise ums Leben kommen.

Zivilisierte Verachtung ist ein mächtiges Instrument für die gemässigten politischen Kräfte, ob bürgerlich oder sozialliberal. Figuren wie Marine Le Pen und Organisationen wie Pegida behaupten, westliche Werte zu verteidigen. Aber wenn Marine Le Pen Stunden nach dem Anschlag auf «Charlie Hebdo» die Todesstrafe für Terroristen fordert, handelt es sich um die zynische Ausschlachtung einer Tragödie und nicht um eine wirksame Strategie. Denn wie genau soll die Todesstrafe Islamisten abschrecken, die mit offenen Augen in den Tod gehen? Wenn Parteien einen totalen Einwanderungsstopp fordern, wo doch klar ist, dass die Bevölkerungen Europas rückgängig sind, dann entspricht dies der Ausnutzung einer Problemlage für die eigenen Zwecke und nicht ernstgemeinter Problemlösung.

Genau deshalb müssen auch die Slogans der Schwarz-Weiss-Politik aus zivilisierter Verachtung heraus aufs Schärfste kritisiert werden. Wenn klar denkende Menschen und Parteien den öffentlichen Diskurs den Marktschreiern überlassen, dann werden die hart erkämpften historischen Leistungen des Westens – Freiheit, Kritik und Rationalität – im Rauch und Schall der Schlagwörter verloren gehen. Und das wäre ein grosser zivilisatorischer Rückschritt.

Ideale

Dringender denn je brauchen wir ebenso vernunfterprobte wie mutige Bürgerinnen und Bürger, die sich weder vom radikalen Islamismus oder von Putins aggressiver Expansionspolitik noch von internen Problembewirtschaftern und Moralwächtern einschüchtern lassen. Sie sind bereit, für ihre Ideale einzustehen, Probleme unerschrocken zu benennen, sich zu exponieren und ihre Position argumentativ selbstbewusst zu verteidigen. Ohne Abstriche – und auf beide Seiten: gegen die Vereinfacher und die Verharmloser.

Carlo Strenger ist Professor für Psychologie und Philosophie an der Universität Tel Aviv und Blogger für die NZZ. 2015 ist bei Suhrkamp sein Buch «Zivilisierte Verachtung: Eine Anleitung zur Verteidigung unserer Freiheit» erschienen.