Samuel Schirmbeck, "Der islamische Kreuzzug und der ratlose Westen. Warum wir eine selbstbewusste Islamkritik brauchen". € 20,- / 288 S.; Orell Füssli, Zürich 2016

cover: Orell Füssli

Der Islam habe, so der im Buch zitierte Philosoph Abdennour Bidar, in seiner Mitte ein Monster hervorgebracht, und ohne aufgeklärte Islamkritik wird er weitere produzieren.

Schirmbeck lebte und arbeitete zehn Jahre in Algier, baute dort 1991 das ARD-Studio auf und berichtete aus dem gesamten Maghreb. Er erlebte den Ausbruch des algerischen Bürgerkrieges, dem 150.000 Menschen zum Opfer fielen, die Jahre des Terrors, in denen Frauen mit Säure verätzt oder erschossen wurden, weil ihre Kleidung zu viel Haut unbedeckt ließ oder weil sie kein Kopftuch trugen. Er erlebte die mörderische Jagd auf Intellektuelle, auf Journalistinnen und Journalisten. Er beobachtete die schleichende Islamisierung der Gesellschaften, die Ausbreitung eines religiösen Obskurantismus, der alle unter Druck setzte, die ein Leben jenseits religiöser Regeln wollten. Sein Resümee: Der Islam sollte endlich seinen Gott unter Kontrolle bringen.

Schirmbeck, der sich als Linker begreift, hadert mit dem linken und grünen Milieu Westeuropas, das, wie er anschaulich zeigt, Bündnisse mit Islamisten eingeht und nicht mehr fähig ist, Abwertungsideologien und reaktionäre Gesellschaftsvorstellungen zu erkennen, wenn sie nicht dem europäischen rechtsextremen Muster entsprechen.

"Ausländer raus!", stellt er fest, sei die Forderung algerischer Fundamentalisten: "Juden, Christen, Ungläubige, Nichtmuslime, Fremde, Ausländer raus! Andernfalls seien sie 'selbst verantwortlich für ihren plötzlichen Tod'! Ohne dass es von offizieller muslimischer Seite, von den Imamen, den Ulemas des friedlichen Staatsislam irgendeine Solidaritätsbekundung für uns Fremde, für uns Nichtmuslime gegeben hätte."

Gegen die Moderne

Küssen auf der Straße, "unislamische" Kleidung, Essen während des Ramadan, Homosexualität, Atheismus – wer nicht ins Korsett rigider Islam- und Moralvorstellungen passt, muss mit Verfolgung rechnen, nicht nur durch gewalttätige Islamisten, sondern auch durch die Staatsmacht und leider viel zu große Teile der Gesellschaft, durch Nachbarn, Kollegen, die eigene Familie, Menschen auf der Straße. Daher spricht Schirmbeck konsequent von Islam, nicht von Islamismus. Noch in den 1990er-Jahren sah er in den Ländern des Maghreb Mädchen und Frauen in sommerlicher Kleidung, ohne Kopftuch, auch auf dem Land. Sie sind verschwunden. Dieser kulturelle Wandel ist das Ergebnis eines Klimas, das mit beständiger Propaganda gegen moderne Frauen einhergeht, gegen kurze Röcke, ärmellose Blusen oder offenes Haar.

"In Marokko und in Algerien ist das Kopftuch inzwischen zum Symbol des Psychoterrors geworden, den der 'friedliche tolerante' Islam", so Schirmbeck, "allerorten verbreitet, so ihm politisch nicht Einhalt geboten wird. Kopftuch und Verschleierung entspringen dem Wunsch, den öffentlichen Raum religiös zu besetzen."

Der Autor beschreibt hier eine Entwicklung, die längst auch in Europa angekommen ist und den konservativen Islam mit seinem Streben nach kultureller Hegemonie zu einem Faktor politischer Auseinandersetzung gemacht hat. Mädchen werden an Schulen gemobbt, wenn sie kein Kopf- tuch tragen oder am gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht teilnehmen. Schüler und Schülerinnen melden sich vor Klassenfahrten krank, fordern Gebetsmöglichkeiten in der Schule und verweigern die Mitarbeit bei Lehrinhalten, die ihnen "unislamisch" erscheinen. Schirmbeck spart nicht mit Kritik an denen, die er für diese Entwicklung mitverantwortlich macht: "Man stelle sich vor, es wären Rechtsradikale, die einen derartigen Druck im Namen ihrer Überzeugungen auf Schüler ausübten, die Linke sehe den Faschismus auf dem Vormarsch" und würde zu Recht zu Protesten aufrufen.

Schirmbecks Ärger über Tabuisierung, Kriterienlosigkeit, doppelte Standards und Akzeptanz gegenüber noch so obskuren Forderungen oder Befindlichkeiten ist dem Buch anzumerken. Denn diese Akzeptanz – auch Kultursensibilität genannt – sei es, die den ohnehin marginalisierten liberalen Kräften in der islamischen Welt in den Rücken falle und auch in Europa jede kritische Debatte über Glaubensinhalte behindere. Eine Debatte, die im Übrigen ohnehin nur hier offen geführt werden kann. Letztlich werde das Thema den Rechten überlassen.

Politiker fast aller Parteien arbeiteten, so der Autor, gedankenlos mit Funktionären und Funktionärinnen der Islamverbände zusammen, die den Islamisten Algeriens ideologisch oft nicht allzu fern stünden; linke und feministische Kreise unterstützen lieber identitäre Hijab-Lobbyistinnen als -Kritikerinnen. Die feministische algerische Schriftstellerin Wassyla Tamzali fragt verzweifelt Richtung Europa: "Muss ich von nun an verschleiert sein, um gesehen zu werden?"

Für die meisten Linken, so konstatiert Schirmbeck, sind nicht diejenigen das Problem, die die islamischen Gesellschaften religiös homogenisieren wollen, weil sie Pluralität ablehnen, sondern jene, die sich im Namen der Frei- heit dieser Homogenisierung entgegenstellen. Letztere werden als Störenfriede betrachtet, gerade so, als übten sie Verrat an einer ihnen zugedachten Kultur.

Auf welcher Seite steht ihr? Diese Frage zieht sich gleich einem roten Faden durch das Buch. Auf der Seite der Verteidigerinnen und Verteidiger der Freiheit, auf der Seite von Kamel Daoud, Amina Tyler, Mona Eltahawy, Tahar Ben Jelloun, Boualem Sansal, Fatima Mernissi, Abdelwahab Meddeb, Abdellah Taia und vieler anderer oder auf der Seite der reaktionären religiösen Kräfte, die allen anderen einen Kulturkampf aufzwingen?

Die nordafrikanischen Aufklärer, so der Autor, kennen ihren Gegner, und es wird höchste Zeit, auch in Europa zur Kenntnis zu nehmen, dass die Gegner von Aufklärung und Freiheit nicht nur rechts stehen. Dazu leistet Schirmbecks Buch einen wesentlichen, im besten Sinne aufklärerischen Beitrag. (Heiko Heinisch, Album, 11.3.2017)