Historiker Rauchensteiner: "Österreich war nicht der Staat, den keiner wollte"

Manfried Rauchensteiner
Manfried RauchensteinerDie Presse
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Manfried Rauchensteiner hat mit "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918" eine Fortsetzung zu seinem Mammutwerk über den Ersten Weltkrieg vorgelegt.

Mit "Der Erste Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie 1914-1918" hat Manfried Rauchensteiner, Österreichs renommiertester Militärhistoriker, vor wenigen Jahren ein über 1.200-seitiges Mammutwerk zum Ersten Weltkrieg vorgelegt. Seine heute präsentierte Fortsetzung "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918" hat "nur" rund 600 Seiten, passt aber ideal zum Republiksjubiläum des nächsten Jahres.

Das Cover des Vorgängers zierte ein Bild von Albin Egger-Lienz, nun findet sich ein Ausschnitt aus dem Gemälde "An die Schönheit" von Otto Dix aus 1922 auf dem Umschlag. Das hier gezeigte Spannungsverhältnis zwischen dem strengen Blick im Selbstporträt des Malers im Vordergrund und der Selbstverliebtheit eines Liebespaars im Hintergrund sei "ein Glückstreffer", meinte der Historiker bei der Buchpräsentation im Presseclub Concordia. Er wolle genau hinsehen und habe dafür viele Akten studiert, doch er wolle keine simple Daten- und Faktensammlung präsentieren, sondern in 25 Kapiteln durchgängig erzählte Geschichte(n) liefern.

"Österreich war nicht der Staat, den keiner wollte. Ganz im Gegenteil. Man hat von diesem Österreich unendlich viel erwartet", erteilte Rauchensteiner der gängigen Meinung über die Erste Republik eine Abfuhr. Österreich sei zwar durch den Vertrag von St. Germain "viel kleiner geworden, als man es gedacht hat, in diesem Österreich hat es aber viele Ideen gegeben. Die Industrie war unendlich optimistisch. Wien war der Bankplatz der Monarchie. Warum also 1918 nicht optimistisch in die Zukunft schauen? Erst im Laufe des Jahres 1919 schwindet der Optimismus."

Hohe Gewaltbereitschaft

Es habe aber viele politische Heilslehren gegeben, die Einfluss genommen hätten. Dazu sei eine hohe Gewaltbereitschaft gekommen: "Rund 700.000 Menschen haben in der Ersten Republik paramilitärischen Organisationen angehört oder sind ihnen nahegestanden." Der christlicher Ständestaat sollte schließlich den "Schutt der Republik" hinwegfegen. Bei einem der die Kapitel trennenden Fotos arbeitet Rauchensteiner mit einem "Täuschungseffekt": Die Massen, die das Foto zeigt, fanden sich nämlich im August 1934 zur Verabschiedung des ermordeten Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß ein und nicht zur Begrüßung von Adolf Hitler im März 1938.

Es habe viele Kontinuitäten zwischen Erster und Zweiter Republik gegeben, nicht zuletzt in der Bundesverfassung: "Eigentlich leben wir noch immer in der Ersten Republik, wir wissen es nur nicht. Und andere reden schon von der Dritten Republik." Rauchensteiner behandelt die Aufbruchstimmung der Kreisky-Jahre ebenso wie die Proteste in der Hainburger Au und die Waldheim-Jahre. Mit den EU-Sanktionen kommt er auch zu seinem Buchtitel "Unter Beobachtung". Österreich sei nämlich immer wieder unter genauer Beobachtung gestanden, etwa in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg seitens der Besatzungsmächte, aber eben auch nach der schwarz-blauen Regierungsbildung. "Wenn ich eine Prognose abgeben sollte: Eines wird gleich bleiben. Österreich wird auch weiterhin und bei vielen Gelegenheiten unter Beobachtung stehen."

"Gefühl der Verletzlichkeit"

Rauchensteiners letzte Überlegungen in dem Buch stammen aus dem Juni 2017. "In der Krise des Frühjahrs 2017 zeichnete sich das Ende der Konsensdemokratie ab", heißt es da etwa. Und, Bezug nehmend auf den gravierenden demografischen Wandel: "Fast unvermeidlich ist es aber, dass sich als Folge starker Veränderungen auch ein Gefühl der Verletzlichkeit eingeschlichen hat. Ein Gefühl für Ohnmacht würde aber nur dann entstehen, wenn man allein gelassen werden sollte - wie 1938 - oder sich selbst aufgibt."

Ein kurzes Schlusskapitel widmet Rauchensteiner dem Heldenplatz, wo derzeit in einem redimensionierten "Haus der Geschichte Österreich" (HGÖ) eine Republikausstellung vorbereitet wird, die im November 2018 eröffnet werden soll. Ein Exponat werde dort leider sicher fehlen, sagte der Historiker. Das Original der Unabhängigkeitserklärung vom April 1945 "haben wir weggeschmissen". Der Text sei jedoch an dem 1966 im Schweizer Garten errichteten Staatsgründungsdenkmal zu lesen - noch ein historisches Detail, das kaum ein Staatsbürger kennen dürfte.

Rauchensteiner zeigte sich von dem kürzlich in St. Pölten eröffneten Haus der Geschichte beeindruckt: "Ein wirklich gelungenes Projekt mit großer Ambition und schönen Exponaten." Das Projekt eines HGÖ in Wien sei bereits "in fünf Regierungsprogrammen drinnen gestanden" und sei im Weisenbericht, der die Voraussetzung der Aufhebung der EU-Sanktionen bildete, ausdrücklich und positiv erwähnt worden, allerdings zunächst größer geplant gewesen. "Ich unterstütze dieses Projekt zweifellos. Aber ich juble nicht so richtig. Irgendetwas wird es schon werden." Die Republikausstellung sollte "ein Nukleus werden für ein großes Haus der Geschichte, von dem aber noch keiner weiß, wo es hin soll. Ich habe immer gesagt: Dafür braucht es einen Neubau. Den sehe ich aber in weiter Ferne."

Buch

Manfried Rauchensteiner: "Unter Beobachtung. Österreich seit 1918"

Böhlau Verlag, 628 S., 28 s/w-Abb. 3 Karten. 30 Euro

(APA)

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