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Türkei
Der letzte Christ von Idil

Die Kleinstadt Idil im Südosten der Türkei ist einer der ältesten christlichen Orte der Welt. Bis Ende der 70er-Jahre stellten die Christen sogar den Bürgermeister. Als dieser erschossen wurde, flohen alle verbliebenen Christen nach Deutschland, Schweden oder die Schweiz. Nun hat auch der letzte Christ Idil verlassen - der Sohn des ermordeten Bürgermeisters.

Von Susanne Güsten | 29.01.2016
    Das Kloster Mor Gabriel im Südosten Anatoliens ist das geistige Zentrum der aramäisch sprechenden christlichen Minderheit. Auch in dem Dorf Kafro sollen sakrale Bauten in neuem Glanz erstrahlen.
    Das Kloster Mor Gabriel im Südosten Anatoliens, nicht weit von der Kleinstadt Idil, ist heute noch das geistige Zentrum der aramäisch sprechenden christlichen Minderheit. (dpa / picture alliance / AKTION MOR GABRIEL)
    Die Marienkirche im südostanatolischen Städtchen Idil, einem der ältesten christlichen Orte der Welt. Uralt ist diese Kirche, erzählt Robert Tutus stolz:
    "Wir haben sieben Kirchen hier in Idil, die Älteste ist schon im Jahr 57 nach Christus errichtet worden. Diese Stadt hat schon im ersten Jahrhundert den christlichen Glauben angenommen, und sie ist christlich geblieben bis zur Zeit meines Vaters."
    Der Vater von Robert Tutus war Bürgermeister von Idil in den 60er- und 70er-Jahren – der letzte christliche Bürgermeister dieser Stadt, die damals noch Azakh hieß. Im Juni 1994 wurde Sükrü Tutus erschossen.
    "Hier vor der Kirche ist er ermordet worden, hundert Meter von unserem Haus entfernt, mit einem Kopfschuss. Er war auf dem Heimweg, zwei Männer sind auf ihn zugegangen, haben ihn gegrüßt und sind 50 Meter mit ihm gegangen. Dann hat einer eine Waffe gezogen und ihn erschossen."
    Mit dem Leben von Sükrü Tutus endete auch die christliche Ära von Idil. Binnen eines Monats packten alle verbliebenen christlichen Bewohner der Stadt ihre Sachen und flohen ins europäische Asyl, darunter auch Robert Tutus mit seiner Mutter und neun Geschwistern, die es nach Deutschland verschlug. Es lebten ohnehin nur noch ein paar Hundert Christen in der Stadt, 20 Jahre zuvor waren es noch tausende.
    "Viele waren vorher schon gegangen, als unsere Weinberge und unsere Obstgärten geplündert und vernichtet wurden. Manche Christen sind in ihren Obstgärten, auf ihren Feldern erschossen worden, da haben sich die Christen gefürchtet und sind abgewandert. Auch der Vater meiner Mutter und ihr Bruder sind in ihren Weinbergen niedergeschossen worden - nur für ein paar Trauben."
    Machtkampf um die urchristliche Landschaft im Südosten der Türkei
    Schon seit Jahrhunderten tobte der Machtkampf um diese urchristliche Landschaft im Südosten der heutigen Türkei. Idil konnte sich lange Zeit gegen den Ansturm wehren, erzählt Robert Tutus:
    "Die kurdischen Dörfer der Umgebung wollten Idil erobern - schon 1915 bei den Massakern an den Armeniern sind sie alle über die Stadt hergefallen. Die Christen haben damals Mauern um die Stadt errichtet und monatelang gegen die Belagerung ausgehalten."
    Hundert Jahre später ist Idil heute eine kurdische Stadt mit 30.000 Einwohnern, darunter keine zwei Dutzend Aramäer mehr. An die Christen erinnern nur die verfallenen Ruinen ihrer Häuser und die alten Kirchen mit den zierlichen Glockentürmen. Die Christen selbst leben heute in Deutschland, in Schweden und in der Schweiz. Robert Tutus, der Sohn des Bürgermeisters, ist vor zehn Jahren zurückgekehrt, um das verlorene Erbe seines Vaters zu beanspruchen und einen Verein zu gründen - einen Verein zur Bewahrung der aramäischen Kultur in Idil.
    "Dies ist die Heimat meines Vaters, die Heimat der aramäischen Christen, unsere Heimat. Der Verein soll dafür sorgen, dass die aramäische Sprache und die Kultur hier weiterleben. Er soll die Leute hier daran erinnern, dass dies die Heimat der aramäischen Christen ist, und er soll der Welt zeigen, dass hier noch immer Christen leben."
    "Für uns aramäische Christen gibt es dort kein Existenzrecht mehr"
    Einfach war es für Robert Tutus nie, doch im letzten Jahr ist seine Arbeit lebensgefährlich geworden. In der jetzt mehrheitlich kurdischen Stadt eskalieren die bewaffneten Kämpfe zwischen Kurdenrebellen und türkischen Sicherheitskräften, und im Schatten des Krieges werden alte Rechnungen beglichen und Ressentiments ausgelebt. Robert Tutus sieht dort keine Zukunft mehr.
    "Auf mein Haus hat es im letzten Jahr mindestens 20 Anschläge gegeben – Bomben, Brandanschläge, die Scheiben eingeworfen; ich selbst werde dauernd bedroht. Ich bin in Lebensgefahr und muss die Stadt verlassen."
    Robert Tutus ist jetzt zurückgekehrt nach Frankfurt, wo seine Familie seit der Ermordung seines Vaters lebt. Der Traum der aramäischen Christen von einer Rückkehr in ihre Heimat ist ausgeträumt, sagt er:
    "Das Land zwischen Euphrat und Tigris, das war zu 90 Prozent aramäisch, das war unsere Heimat. Aber es ist dort so schlimm geworden, dass man nicht mehr dort leben kann. Wir müssen die Hoffnung aufgeben. Für uns aramäische Christen gibt es dort kein Existenzrecht mehr - es ist vorbei."