Litauen

Wo die Stille tötet

In Litauen nehmen sich mehr Menschen das Leben als in jedem anderen Land Europas. Das liegt auch an einer Kultur des Schweigens, in der die Schrecken der Vergangenheit nie aufgearbeitet wurden.

Text: Mathias Becker, Fotos: Hannes Jung

Eine Schicht aus Eis und Streusand liegt auf dem Parkplatz der Polizeistation, und so knirscht es mit jedem Schritt, als Gintarė Šližytė und Regimantas Tubelis zu ihrem Geländewagen gehen. Ein kalter Wind bläst den jungen Beamten entgegen. „Wie kalt muss es erst da draußen sein“, sagt Šližytė, eine kräftige Frau, die Haut gerötet, blonde Locken quellen unter ihrer Wollmütze hervor. Ihr Kollege lässt den Motor an, und wenig später rollen sie am Ortsausgangsschild vorbei in eine Welt aus tiefgefrorenen Feldern und Wäldern. 

Einst war diese Gegend eine der Kornkammern Litauens, die Kolchosen gaben den Menschen Arbeit. Mit dem Zusammenbruch des alten Regimes schlossen die Staatsbetriebe, und viele Menschen, die ihr halbes Leben geschuftet hatten, standen mit leeren Händen da. Die Felder wurden den Bauern zwar zurückgegeben, doch kaum jemand konnte die neue Freiheit in Wohlstand ummünzen. Heute lässt Ikea in dieser Gegend kleine Holzstifte herstellen. Sonst findet man hier kaum etwas, das die Welt zusammenhält.

Nach einer halben Stunde Fahrt hält Tubelis in einem verfallenen Dorf. Die Polizisten steigen aus und gehen auf ein ockergelb getünchtes Haus zu, auf dessen Fassade ein großer Schmetterling gemalt ist. „Janina?“, ruft Gintarė Šližytė, als sie sich dem Haus nähern. Eine alte Frau öffnet die Tür. Wenig später stehen sie in ihrer ärmlichen Stube. Und die Frau beginnt zu erzählen. Dass ihre Tochter und die Enkelkinder sie nur noch besuchen, wenn sie Geld brauchen. Und dass die Kälte nachts selbst unter drei Decken kriecht. „Wie kaufst du ein?“, fragt die Polizistin Šližytė. „Die Gemeindemitglieder bringen mir Lebensmittel aus dem Dorf mit“, sagt Vickiene. „Hast du ein Handy?“, fragt Šližytė. Janina gräbt ein abgegriffenes altes Gerät aus einer Schublade. Šližytė schreibt die Nummer ihres Diensthandys auf einen Zettel. „Ruf mich an, wenn du Hilfe brauchst.“

Der Hund bewacht den Garten von Janina. Die alte Frau ist auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen, die ihr Lebensmittel aus dem Dorf mitbringen.
Der Hund bewacht den Garten von Janina. Die alte Frau ist auf die Hilfe ihrer Nachbarn angewiesen, die ihr Lebensmittel aus dem Dorf mitbringen.

Es folgen weitere Etappen durch die tiefgefrorene Landschaft, weitere Besuche in verlassenen Dörfern. Klopfen an den Türen, hinter denen noch jemand lebt. Blicke aus dunklen Stuben, mal erfreut, mal skeptisch. Manche Menschen lassen die Beamten nicht ins Haus, andere laden sie zu Tee und Keksen ein. „Danke“, sagt Sližytė. „Aber wir müssen weiter.“

Die Streifenfahrt von Gintarė Šližytė und Regimantas Tubelis ist Teil eines Projekts, das im April 2014 in der Ortschaft Kupiskis im Nordosten Litauens anlief. Es soll helfen, die Suizidrate in der Region zu senken. „Wir schulen gezielt Sozialarbeiter, Polizisten, Ärzte oder Krankenschwestern, um Gefährdete zu identifizieren“, sagt die Psychologin Valija Sap, die das Projekt leitet. „Wenn wir wissen, wer sich immer mehr zurückzieht, wer keinen Lebensmut mehr zeigt oder ständig von seinem eigenen Tod spricht, können wir vielleicht rechtzeitig reagieren.“

Das Projekt ist die Reaktion auf einen traurigen Rekord: Litauen verzeichnet die höchste Suizidrate Europas und eine der höchsten der Welt. Im Jahr 2015 etwa nahmen sich rund 1000 der etwa drei Millionen Litauer das Leben. Das entspricht 30,8 auf 100 000 Einwohner – drei Mal so viele wie im europäischen Durchschnitt. Und die Suizidrate ist nur die Spitze des Eisbergs. Hinzu kommen, auf jeden vollzogenen Suizid – vorsichtigen Schätzungen zufolge – rund zehn Suizidversuche. Allein sie lassen die Zahl der direkt Betroffenen auf mehrere tausend anschwellen. Pro Jahr. Und dann sind da noch die Menschen, die mit dem Suizid oder Suizidversuch eines Angehörigen leben müssen. Nicht selten sind auch sie früher oder später auf psychologische Hilfe angewiesen. Wer die Zahlen zusammenrechnet, kommt zu einem alarmierenden Ergebnis: Suizide und ihre Folgen betreffen, direkt oder indirekt, hunderttausende Litauer. 

Suizide und ihre Folgen betreffen in Litauen hunderttausende Menschen

Die Menschen, die Tag für Tag gegen den Tod kämpfen, sitzen in einem heruntergekommenen Bürohaus in der Hauptstadt Vilnius. Zu Sowjetzeiten hatte hier eine große Baufirma ihren Sitz, heute haben sich ein paar kleine Firmen eingemietet. Ganz oben, im fünften Stock, türmt sich Gerümpel im Treppenhaus. An einer Tür klebt ein grüner Origami-Vogel, daneben steht „Jaunimo Linija“ auf einem Schild. „Jugendlinie“: So heißt das landesweite Sorgentelefon, das rund 300 Mal am Tag klingelt. Unter den Anrufern sind viele Spaßvögel, aber rund 50 Mal am Tag ist es ernst: Am anderen Ende der Leitung sind Menschen, die in schwere Krisen geraten sind. Manche stehen, das Handy am Ohr, bereits auf einem Hausdach.

Etwa 300 Männer und Frauen leisten im Schichtbetrieb an drei Standorten rund um die Uhr Erste Hilfe am Hörer. Bezahlt werden sie nicht. Staatliche Mittel und Spenden, die der Verein erhält, reichen eben, um billige Räume und einige Verwaltungskräfte zu finanzieren. „Ein paar Ehrenamtliche sollen dieses riesige Problem lösen“, sagt Paulius Skruibis. Der 37-jährige Diplom-Psychologe und Suizidforscher war vor rund 20 Jahren einer der ersten, die sich für die Hotline engagierten. Heute sitzt er im Vorstand des Vereins, der das Telefon betreibt. Skruibis gehört auch zu einer Gruppe von Wissenschaftlern, die das Pilotprojekt in Kupiskis erdacht haben. „Wir brauchen unkomplizierte Hilfsangebote, wenn wir die Leute erreichen wollen.“

Paulius Skruibis sieht eine Reihe von Gründen für die hohe Suizidrate in seinem Land. „Natürlich sind da die Armut, die Einsamkeit, die Hoffnungslosigkeit und der Alkoholismus.“ Fast 30 Jahre nach der Wende lässt der Wohlstand auf sich warten. Der Systemwechsel hat zigtausende Jobs gekostet, die Arbeitslosigkeit lag streckenweise bei 30 Prozent. Mittlerweile ist sie auf acht Prozent gefallen, doch was man verdient, reicht kaum zum Leben. Die Alten sind oft bitterarm, die Jungen fliehen ins Ausland: Nach offiziellen Angaben haben seit 2005 mehr als 218 000 Menschen Litauen verlassen. Die Dunkelziffer soll weitaus höher liegen. Zurück bleiben jene, die sich in der neuen Wirtschaftsordnung nicht zurechtfinden konnten oder zu alt waren, etwas aufzubauen. In keiner Bevölkerungsgruppe in Litauen werden so viele Suizide gezählt wie unter armen, älteren Männern, die allein auf dem Land leben.

Etwa 300 Männer und Frauen leisten beim Sorgentelefon "Jugendlinie" Erste Hilfe am Hörer, die meisten unbezahlt. Rund 50 Mal am Tag rufen Menschen an, die in schwere Krisen geraten sind.
Etwa 300 Männer und Frauen leisten beim Sorgentelefon "Jugendlinie" Erste Hilfe am Hörer, die meisten unbezahlt. Rund 50 Mal am Tag rufen Menschen an, die in schwere Krisen geraten sind.

„Armut und Elend reichen als Erklärung aber nicht aus“, sagt Paulius Skruibis. Wenn das so wäre, müsste die Suizidrate in den ärmsten Ländern der Welt am höchsten sein. Da ist sie aber nicht. Ein Hinweis darauf, dass eine hohe Suizidrate von vielen weiteren Faktoren abhängt. Einen davon, der in Litauen eine Rolle spielen könnte, beschreibt Skruibis als eine Art Sprachlosigkeit. „Vor allem Männer haben nie gelernt, dass man über Probleme reden muss“, sagt Paulius Skruibis. „Sie schweigen über ihre Sorgen, bis es nicht mehr geht.“ Vor allem psychische Leiden seien tabuisiert. Manchmal kommt es ihm so vor, als sei diese Sturheit Teil der Kultur seines Landes. Als hätten Kälte und Dunkelheit die Menschen hier im Norden zu schweigsamen Eigenbrötlern gemacht, unfähig, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

Vielleicht ist das so, vielleicht gibt es diese Sprachlosigkeit in Litauen. Aber welchen Ursprung hat sie? Die Frau, die sich mit dieser Frage intensiv beschäftigt hat, sitzt in einem kleinen Büro in der Universität von Vilnius. Hinter ihrem Rücken wachsen Bücherregale bis unter die Decke. Danute Galiene, 65, ist Psychologieprofessorin und hat eine der wichtigsten Studien zum Thema Suizid in Litauen geleitet – nach der Wende. „Das Problem war uns Wissenschaftlern schon während der Sowjet-Ära bekannt, aber wir durften uns damit nicht beschäftigen.“ Im Kommunismus gab es offiziell keine unglücklichen Menschen.

1991, nach der Unabhängigkeit, war der Weg frei, und Danute Galiene machte sich in den Archiven des Statistischen Amts auf die Suche. Sie durchforstete Aktenordner, wertete Statistiken aus und fasste ihre Ergebnisse zu einer Kurve zusammen, der Suizidrate Litauens im 20. Jahrhundert: Zu Beginn des Jahrhunderts war die Rate nicht höher als in anderen europäischen Ländern. Sie stieg erst 1941, nach dem Einmarsch der Deutschen. Und sie kletterte weiter nach oben, nachdem die Rote Armee das Land 1944 besetzt hatte, und es zu einem Teil der Sowjetunion geworden war. Mit dem Beginn der Perestroika, der Politik der sanften Öffnung des Regimes, bricht der Aufwärtstrend ein. Doch Mitte der 1990er Jahre, ein paar Jahre nach der Wende, setzt er wieder ein. Man kann die Kurve als Suizidstatistik lesen. Oder als Blick in die Seele Litauens.

Eine Seele, die immer wieder geschunden wurde. Erst 1918 wurde eine unabhängige Republik ausgerufen, die wenige Jahre später von einer Diktatur abgelöst wurde, bevor 1941 die Deutschen einmarschierten und gnadenlos Andersdenkende verfolgten und ermordeten. 

In Vilnius, das über Jahrhunderte als das „Jerusalem des Ostens“ gegolten hatte, löschten Nazis die jüdische Gemeinde vollständig aus. Rund 200 000 Menschen wurden ermordet. 1944 befreiten die Russen das Land – um es wenig später ebenfalls mit Säuberungswellen zu überziehen. Die Kommunisten hatten es auf die alten Eliten abgesehen. Sie verbannten Großbauern, Akademiker oder Oppositionelle samt ihrer Familien nach Sibirien. 

Mit dem Ende der Sowjetherrschaft schöpften die Menschen Hoffnung, sichtbar am Knick in der Suizidkurve. Doch der radikale Systemwechsel und die Ausbeutung des Landes durch die alter Politik- und die neue Wirtschaftselite brachte zahlreiche Verlierer hervor. Die Zeiten der Zuversicht waren schnell vorbei. Die Kurve stieg wieder an.

Mit Pferden bestellen manche Bauern in Litauen ihre Felder. Fast 30 Jahre nach der Wende lässt der Wohlstand auf sich warten, und in keiner Bevölkerungsgruppe werden so viele Suizide gezählt wie unter armen, älteren Männern, die allein auf dem Land leben.
Mit Pferden bestellen manche Bauern in Litauen ihre Felder. Fast 30 Jahre nach der Wende lässt der Wohlstand auf sich warten, und in keiner Bevölkerungsgruppe werden so viele Suizide gezählt wie unter armen, älteren Männern, die allein auf dem Land leben.

Aber kann man die Suizide von heute mit den Verbrechen von damals erklären? Danute Galiene überlegt einen Moment. „Das lässt sich nicht pauschal beantworten“, sagt sie. Jeder einzelne Suizid sei das Ende einer sehr individuellen Leidensgeschichte. Biografische Faktoren wie besonders schwere Schicksalsschläge könnten dabei eine Rolle spielen. Man dürfe einen Suizid aber nicht auf solche Gründe reduzieren, denn auch die psychische Struktur eines Menschen spiele eine Rolle. „Ein Suizid lässt sich nicht rational begründen“.

Und doch gebe es mächtige Faktoren, die das statistische Pendel in die eine oder andere Richtung ausschlagen lassen können. Das sind manchmal ganz banale äußere Faktoren: In den vergangenen zwei Jahrzehnten etwa sank die Suizidrate in vielen ländlichen Regionen in China, nachdem eine Regelung Landwirtschaftsbetriebe dazu zwang, hochgiftige Pflanzenschutzmittel in sicheren Schränken zu verschließen. Den Menschen fehlte schlicht der Zugang zu einem schnellen Tod. 

Selbst wer nicht zu den direkten Opfern der Verbrechen gehört, kann seelische Narben in sich tragen

Manchmal greifen sie tiefer, zum Beispiel, wenn die Geschichte Spuren in der Psyche vieler Menschen hinterlässt. Im Falle Litauens hieße das: Die Folgen von Zwangskollektivierung, Verbannung, Inhaftierung und anderer Verbrechen, denen in den vergangenen Jahrzehnten ungezählte Menschen zum Opfer fielen, könnten gewissermaßen von Generation zu Generation weitergegeben werden. „Selbst wer nicht zu den direkten Opfern dieser Verbrechen gehört, kann seelische Narben in sich tragen“, sagt Danute Galiene. „Wenn dann weitere Faktoren hinzu kommen, können solche Narben aufbrechen, und ich glaube, genau das erleben wir in Litauen.“

Hinzu kommt in Litauen wie in vielen Staaten, die einst der Sowjetunion angehörten, weit verbreitete Ablehnung psychotherapeutischer und psychiatrischer Hilfsangebote. „In der Sowjet-Ära war die Einweisung in die Psychiatrie ein Stigma“, sagt Danute Galiene. Und es traf nicht nur psychisch Kranke. „Auch Dissidenten wurden eingewiesen und auf diese Weise aus dem Verkehr gezogen.“ Wer einmal in der Anstalt war, wurden mit Medikamenten ruhiggestellt. „Echte Therapie fand so gut wie nicht statt.“ Galiene sieht in dieser Vergangenheit einen Grund für die weit verbreitete Skepsis, ja Angst vor der Psychiatrie. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht: Eine echte Reform des Systems, weg von der rein medikamentösen Behandlung von psychischen Erkrankungen und hin zu psychotherapeutischen Ansätzen, hat nicht wirklich stattgefunden. 

Umso skrupelloser schlachten die Medien jeden Suizid aus: Bilder von Tatorten zieren regelmäßig die Titelseiten von Tageszeitungen, Suizide werden detailliert beschrieben. Auf der Jagd nach Auflage und Quote befeuern Medienschaffende den sogenannten „Werther-Effekt“, benannt nach Goethes berühmter Romanfigur: Im 19. Jahrhundert nahmen sich zahlreiche junge Männer nach dem Muster des „Werthers“ das Leben. Nicht selten trugen sie dabei sogar die im Roman beschriebene gelbe Weste. 

„Wer sich mit dem eigenen Suizid beschäftigt, ist bis zuletzt hoch ambivalent“, erläutert Paulius Skruibis, der am Sorgentelefon genug Geschichten von Menschen gehört hat, die am Abgrund stehen. „Eine Stimme sagt: Du willst nicht mehr leben. Die andere sagt: Du willst leben.“ Die Frage sei dann, welche Stimme lauter ist. „In so einer Situation kann ein Zeitungsartikel zum letzten Impuls von außen werden, der die Tat erst möglich macht“ Es könnte also sein, dass die exzessive Berichterstattung über Suizide die Suizidrate in Litauen nach oben getrieben hat.

Doch zuletzt mehren sich die Zeichen der Hoffnung. Da ist das Sorgentelefon „Jaunimo Linija“, das rund um die Uhr anonyme Hilfe anbietet. Der Verein „Artimiems“, der trauernde Hinterbliebene zusammenbringt. Oder der bärtige Rockers Andrius Mamontovas, der regelmäßig durch die Provinz tourt und den Menschen von der Kraft des Wortes erzählt. Von der Stärke, Schwäche zu zeigen, anstatt sich zu vergraben. Sie alle wollen eine Kultur des Redens einführen in einem Land, das sich über Jahrzehnte an das Schweigen gewöhnt hat.

Paulius Skruibis glaubt, dass ein Wandel möglich ist, auch wenn er Zeit braucht. Das zeige sich in Kupiskis, wo Gintarė Šližytė und Regimantas Tubelis regelmäßig auf Streife sind. Drei Jahre nach dem Start des Projekts, ist die Suizidrate um 50 Prozent gefallen. Sie entspricht heute dem Landesdurchschnitt. „Es scheint, als hätten wir es geschafft, eine Kultur des Hinschauens zu etablieren“, so Skruibis. Das hat auch das Gesundheitsministerium überzeugt: Das Projekt, das anfangs von privaten Geldgebern auf die Beine gestellt wurde, wird heute vom Staat finanziert. Sein Name ist „Tyla žudo“: Stille tötet.

Leben mit der Trauer

Ein neues Gefühl

Mücken fliegen in Schwärmen über einen See nahe der Stadt Kupiskus. Dort wohnt Vilma, ihr Mann hat sich vor sechs Jahren das Leben genommen. Nach Jahren der Trauer hat sie nun endlich wieder Freude am Leben gefunden. „Ich habe ein neues Gefühl in mir entdeckt, ich spüre wieder Interesse am Leben“, sagt sie. Vilma ist interessiert daran, ins Theater zu gehen, sich eine Oper anzusehen oder Kanu zu fahren. Sogar den Sonnenuntergang schaut sie sich inzwischen wieder gerne an.

Wenn der Vater nie mehr anruft

Editas Vater nahm sich im Januar 2016 das Leben. Die junge Frau aus der Stadt Kaunas spricht im Geiste oft mit ihm – auch, um ihre Trauer zu verarbeiten: „Ich sitze genau an dem Platz, an dem ich saß, als ich deine Nachricht bekam und erfuhr, dass du dich umgebracht hast. Das ist der Ort an dem ich zitterte und gebetet habe, dass es nicht wahr ist. Es tut mir leid, dass ich nicht die perfekte Tochter bin. Ich will, dass du weißt, dass ich dich liebe. Ich vermisse dich schrecklich.

Manchmal rufe ich noch deine Telefonnummer an oder warte auf deinen Anruf am Sonntag, da hast du dich immer bei mir gemeldet. Manchmal rolle ich mich in meinem Bett zusammen und weine, weil ich dich so sehr vermisse. Warum hast du gesagt, du wärest immer an meiner Seite? Zu wem soll ich jetzt gehen, wo du weg bist? Ich denke an dich, wenn ich Fahrrad fahre, du hast mir beigebracht, damit zu fahren. Dafür danke ich dir.

Ich bin glücklich, aber ich vermisse dich so sehr. Ich habe keinen Vater mehr, und ich bin wütend auf dich. Du hast mich verlassen. Ich liebe dich und träume oft von dir. Du bist mein Papa, Lebe wohl.“ 

Land ohne Hoffnung

Das Wohnzimmer einer Bauernfamilie nahe der Stadt Radeikiai: Auf dem Land sind die Suizidraten in Litauen am höchsten, mit bis zu 92 Suiziden auf 100 000 Einwohner. In diesen Gebieten ist die Suizidrate seit der Vorkriegszeit um das Neun- bis Zehnfache angestiegen. In den Städten fiel die Zunahme viel geringer aus. Vor dem 2. Weltkrieg dagegen war die Suizidrate in der Stadt doppelt so hoch wie auf dem Land.

Was ließ und lässt Menschen in Litauen auf dem Land verzweifeln? Experten liefern unter anderem folgende Erklärungen:

Die Kollektivierung in der Landwirtschaft bedeutete für viele Menschen nicht nur den Verlust ihres Hofes und Eigentums. Ihnen kam gleichzeitig ihre Identität und Selbstbestimmung abhanden. Auch die Ausübung der Religion war verboten oder stark eingeschränkt − die Kindererziehung wurde unter ideologischen Vorzeichen vom Staat übernommen. Der deportierte oft starke Persönlichkeiten, die eine eigene Position vertraten oder öffentlich Kritik übten. Andere kämpften mit den Partisanen in den Wäldern und kehrten als gebrochene Menschen zurück.

Nackt und betrunken

„Wenn ich traurig bin, singe ich, spiele und höre Musik. Ich entspanne mit guter Laune, ich tanze, ich liebe Witze. Ich versuche, immer zu lächeln“, sagt Teresa, sie ist 57 Jahre alt. Sie ist im Südosten Litauens aufgewachsen, ihr Vater war Musiker, sie hatte eine glückliche Kindheit.

Teresa hat immer als Hilfsarbeiterin gearbeitet, auf den Feldern oder den Bauernhöfen von Varena. Mit ihrem ersten Ehemann hatte sie drei Kinder, doch er verschwand nach sieben Jahren Ehe einfach und ließ sie mit den Kindern allein. Ihr zweiter Ehemann war Alkoholiker. Er hat sie geschlagen, aber er hat sie auch geliebt, beteuert Teresa bis heute. Ein Kind haben sie gemeinsam bekommen, ein weiteres adoptiert. Fünf Jahre nach Geburt der Tochter begann der Mann zu trinken, als LKW-Fahrer bekam er Schnaps für Gefälligkeiten geschenkt.

Wenn Teresa bei der Arbeit war, riefen manchmal die Kinder an, weil der Vater zu Hause nackt und betrunken in der Wohnung stand. Er hat seine Ehefrau auch regelmäßig sexuell bedrängt, besonders, wenn er betrunken war. Im Alter von 38 Jahren nahm er sich das Leben. 

Aus dem Brunnen gezogen

Das Nachricht stand in der Zeitung. Eine kleine Meldung über einen Mann, der in einen Brunnen gestiegen war, um sich das Leben zu nehmen. In Litauen berichten Medien oft über Suizide, als sei das eine ganz gewöhnliche Nachricht – obwohl Forscher längst den „Werther-Effekt kennen“, dass nämlich Berichte über Selbstmörder auch andere dazu ermutigen können.

Die Ehefrau des Mannes sitzt im Garten, als sie von jenem schrecklichen Tag, dem 20. Mai 2016, erzählt: „Als ich meinen Mann in den Brunnen steigen sah, habe ich große Angst bekommen, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern, was ich gedacht habe. Als ich ihm sagte, dass er wieder herauskommen solle, sagte er mir, dass er es nicht länger ertragen könne. Mit Hilfe meiner Mutter und Tochter zogen wir ihn heraus.“

Im Dorf herrscht wenig Verständnis für die Sorgen der Familie. „Warum kümmern sich Polizei und Feuerwehr um diesen Mann?“, schreit eine Frau aus dem offenen Fenster ihres Hauses. Der würde doch nur ein Drama veranstalten. „Und plötzlich kommen alle, um ihn zu retten“, schimpft sie. 

Ein großer Bund Zwiebeln

Donata wollte immer die beste Mutter, Ehefrau, Köchin und Arbeiterin zu sein, um nicht verlassen zu werden. Sie blieb in Kupiskis, ihrem Heimatort, lernte Schneiderin. Sie war 28 Jahre alt, als sie heiratete, das war ziemlich spät für Litauen. Drei Jahre lang war sie verheiratet, dann fand ihr Mann eine andere Frau. Das war das Ende der Welt für sie.

Zu der Zeit begannen die Depressionen. Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Und wenn sie einen hatte, vermochte sie nicht mehr zu beurteilen, ob er gut oder schlecht war. Sie saß nur noch da, mit gesenktem Kopf. Stundenlang. Im Supermarkt konnte sie sich nicht entscheiden, was sie in ihren Korb legen sollte.

Zu der Zeit konnte sie auch nicht schlafen, hielt nur die Hand ihrer Tochter. Oder wanderte nachts herum. In einer Nacht sah sie Zwiebeln draußen liegen, auf dem Asphalt. Donata hob die Zwiebeln auf, sie sollten nicht verkommen. Also griff sie danach, schnürte ein Bund. Ganz plötzlich hatte sie wieder ein Ziel. Nur ein kleines Ziel. Aber heute sagte sie, das es ihr vielleicht das Leben gerettet hat, in jener besonders dunklen Nacht. 

Kein Funken Hoffnung

Große Vielfalt: In einem Laden in Varena gibt es jede Menge Alkohol zu kaufen. Die Region hat die höchste Suizidrate des Landes. Und der Alkoholkonsum in Litauen ist eine der größten weltweit, berichtet die WHO.

Schon im Zarenreich bemühten sich die Behörden Litauens, den Alkoholkonsum zu drosseln. Im westlichen Teil des Landes begann Bischof Motiejus Valančius 1858 eine Sozialbewegung, die den Genuss von Alkohol ablehnte. Obwohl die russischen Zaren die Bewegung ablehnten und schließlich sogar bannten, tranken die Einwohner Litauens bis zum Jahr 1906 deutlich weniger Alkohol als Russen.

Erst nach dem 2. Weltkrieg nahm der Konsum deutlich zu, wohl als vermeintliche Hilfe, besser mit dem Alltagsstress zurecht zu kommen. In dem Tagebuch eines Partisanen findet sich ein Eintrag aus dem Jahr 1949: „ ... überwältigende Armut! Kein Funken Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die einzige Unterhaltung besteht darin, Samogon (selbst gebrauten Schnaps) zu trinken. Das Dorf wurde völlig von Samogon übernommen. Er wird von jedem gebraut und getrunken, sogar von Kindern.“

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