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Philosophen über Flüchtlingskrise Das Ende der Lebenslüge

Wie schauen Philosophen auf die Flüchtlingskrise? Erstaunlich realistisch, wie eine Umfrage unter 27 Denkern ergab. Die Zeit der Illusionen sei vorbei, sagt der Initiator. Die Deutschen müssten sich endlich erwachsen mit Migration auseinandersetzen.
Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze: "Lebensweltlich auf Distanz gehalten"

Flüchtlinge an der griechisch-mazedonischen Grenze: "Lebensweltlich auf Distanz gehalten"

Foto: DIMITAR DILKOFF/ AFP

Wolfram Eilenberger ist Philosoph, Publizist und Chefredakteur des "Philosophie Magazins". Die Zeitschrift hat 27 Denker zu einzelnen Aspekten von Migration und Integration befragt , vier Antworten lesen Sie weiter unten. Was denkt Eilenberger selbst über die aktuellen Herausforderungen der Flüchtlingskrise?

SPIEGEL ONLINE: Geschätzt eine Million Flüchtlinge sind 2015 aus den Krisengebieten der Welt nach Deutschland gekommen. Was hat sich verändert?

Eilenberger: Wir sind am Ende der zentralen Lebenslüge einer ganzen Generation von Europäern angelangt. Ich bin jetzt 43 Jahre alt. Wie viele andere habe ich mir vorgemacht, das konkrete Leid, das in den Ländern des Nahen Ostens, Asiens und Afrikas den Alltag von Milliarden Menschen prägt, ließe sich für die kommenden Jahrzehnte lebensweltlich auf Distanz halten. Wir hegten die Illusion eines Kerneuropas als mauerloser Paradiesgarten in einer Welt des Elends. Damit ist es vorbei.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben die jetzige Situation mit dem Mauerfall 1989 verglichen.

Eilenberger: Ja, weil die Flüchtlingsbewegungen geopolitisch gesehen eine vergleichbar grundlegende Neuordnung bedeuten. Damals wurde der Warschauer Pakt brüchig, heute ist es die EU, die an der Flüchtlingsfrage zu zerbrechen droht. Wir haben anzuerkennen, dass die europäischen Anrainer das Verhalten Deutschlands derzeit als eigenmächtig und anmaßend wahrnehmen. Selbst die skandinavischen Länder distanzieren sich vom Kurs der deutschen Regierung mit Grenzschließungen und Kontrollen. Das ist eine extrem kritische Situation. Und wir stehen erst am Anfang der großen Migrationsbewegungen nach Europa.

Philosoph Eilenberger: "Jahrhundertealte Angstmuster bedient"

Philosoph Eilenberger: "Jahrhundertealte Angstmuster bedient"

Foto: imago

SPIEGEL ONLINE: Die massiven sexuellen Übergriffe auf Frauen mutmaßlich durch Migranten in Köln sorgen für Fassungslosigkeit und Wut. Hat die heftige Reaktion auch mit einer Urangst vor dem Fremden zu tun?

Eilenberger: Hier werden jahrhundertealte Angstmuster bedient: Der muslimische Mann aus dem Osten, die Vergewaltigungsangst, das sind Topoi, die in der europäischen, auch deutschen Selbstbeschreibung seit Langem vorhanden sind und jetzt zum Schwingen gebracht werden. Wir sehen am Beispiel von Köln aber auch, was passiert, wenn Ordnungssysteme an ihre Bewältigungsgrenzen geraten. Städte, die so benennbar schlecht regiert werden wie eben Köln oder auch Berlin, sind anfälliger für solche Eskalationen und Steuerungsverluste.

SPIEGEL ONLINE: Müssen wir um ein friedliches Miteinander bangen?

Eilenberger: Ich finde, unsere Gesellschaft hat sich in den vergangenen zwölf Monaten als außerordentlich resilient, aktivierungsfähig und selbstmobilisierend gezeigt. Möglich, dass man in 20 Jahren sagt: Das war ein Wunder! Es ist sehr viel Gutes getan worden, auf das man stolz sein kann. Viele Helfer haben erkannt, dass der Staat nicht alle gesellschaftlichen Probleme lösen kann. Also haben sie sich selbst organisiert in Netzwerken. Es regiert überwiegend ein guter Wille im Kantschen Sinne. Das hat mich positiv überrascht. Andererseits zweifle ich, ob und wie diese tätige Empathie stabilisierbar sein wird. Wir reden hier ja von Prozessen, die Jahrzehnte des Einsatzes und der Fürsorge erfordern.

SPIEGEL ONLINE: Glauben Sie, dass es bei einigen Helfern auch ein Moment der Erlösung gab, eine Abwendung von der sinnentleerten Konsum-, hin zu einer Willkommenskultur, die Erfüllung durch Selbstlosigkeit versprach?

Eilenberger: Ganz sicher gab es einen positiven Einbruch des Menschlichen, der für viele auch sinnstiftend und damit lebensintensivierend wirkte. Doch bleibt es problematisch, Fremde in diesem Sinne als Mittel der eigenen Selbstfindung zu preisen.

SPIEGEL ONLINE: Was ist schlimm daran, wenn Flüchtlingshilfe identitätsstiftend ist?

Eilenberger: Die Ankommenden sollten nicht als Mittel zum Zweck wahrgenommen werden, weder demographisch, ökonomisch noch zur Selbstrealisierung. Aus einer Kantschen Perspektive ist der Flüchtling erst einmal ein Zweck an sich. Es geht nicht darum, was die Menschen für uns leisten können, sondern, wie wir ihnen helfen können. Weil die meisten von ihnen vorrangig eins brauchen: Schutz vor konkreter Verfolgung und lebensbedrohender Not. Darin besteht ja auch der eigentliche Kerngedanke des Asylgesetzes.

SPIEGEL ONLINE: Sie haben für die aktuelle Ausgabe des "Philosophie Magazins" 27 Denker zu einzelnen Aspekten der Flüchtlingsdebatte befragt. Cap-Anamur-Flüchtlingsretter Rupert Neudeck, 1945 selbst aus Danzig geflohen, schreibt, das "Geschenk der Deutschen" müsse durch eigene Anstrengungen der Flüchtlinge beantwortet werden. Wer sich dem Deutschunterricht, Reinigungs- oder Hilfsdiensten verweigere, solle abgeschoben werden.

Eilenberger: Rupert Neudeck hat jahrzehntelange Erfahrung mit Flüchtlingen. Was er vorschlägt, verdient Beachtung. Mich ärgert es, dass solche alltagsvernünftigen Vorschläge, die für beide Seiten einen Gewinn darstellen, allzu leicht in eine rechte Ecke gestellt werden. Das ist kontraproduktiv.

SPIEGEL ONLINE: Welche Fähigkeiten sind denn jetzt gefragt?

Eilenberger: Die Ernsthaftigkeit, der Situation realistisch ins Auge zu sehen, ein erwachsenes Gespräch zu führen, das sich von Verherrlichung und Dämonisierung gleichermaßen fernhält. Und der Wille, die Anstrengung als eine gesamtgesellschaftliche anzunehmen. Das bedeutet auch, ein neues Bild von dem Land zu entwickeln, in dem wir in Zukunft leben wollen.

SPIEGEL ONLINE: Was meinen Sie mit "erwachsen"?

Eilenberger: Schauen Sie sich an, was in den sozialen Netzwerken geschieht: Gerade die Flüchtlingsthematik wird von einer infantilen Diskurskultur beherrscht, von wechselseitigen Unterstellungen, Häme, Beschuldigung, naiver Besserwisserei und Verhärtung. Fast alles, was sachlich nötig wäre, gerät in diesen Sandkastenlogiken aus dem Blick. Es wäre ein erwachsener Anfang, sich zunächst eine grundlegende Perplexität einzugestehen. Wir bewegen uns derzeit alle auf schwankendem Grund. Das erfordert eine besondere Wachheit und Gelenkigkeit, gerade in Bezug auf eigene Überzeugungen. Es erfordert die Bereitschaft, Unrecht zu haben.


Im Folgenden lesen Sie vier Beiträge von Denkern aus dem "Philosophie Magazin":

Harald Welzer, Sozialpsychologe

Harald Welzer, Sozialpsychologe

Foto: Arno Burgi/ picture alliance / dpa

Welches sind die Erfolgsindikatoren, die uns in 20 Jahren sagen lassen können: "Ja, wir haben es geschafft?"

Für eine erfolgreiche Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen gibt es eigentlich keinen anderen Indikator als die erfolgreiche Integration von Zuwanderern und Flüchtlingen. Das heißt: Im Erfolgsfall merkt man gar nichts. Schließlich ist es ein Merkmal von funktionierenden Einwanderungsgesellschaften, dass die Herkunft und Migrationsgeschichte der Gesellschaftsmitglieder im Alltag keine Rolle spielt - im Unterschied zu Gesellschaften, deren Selbstbild stark an eine (vermeintlich) biologische Identität gekoppelt ist.

Um es einfach zu sagen: Auf die Idee, dass jemand, der aus Anatolien eingewandert ist, kein Amerikaner sei, würde ein Amerikaner nicht kommen. In Deutschland, das sich lange geweigert hat, das Selbstbild eines Einwanderungslandes anzunehmen, gilt dagegen noch dessen Enkelin als eine Person "mit Migrationshintergrund".

Darüber hinaus sollte man endlich aufhören, Gegenwarten in Zukünfte hochzurechnen. Gesellschaften sind nie stabil und soziale Entwicklungen nie linear. Um Demokratie widerstandsfähig zu machen, muss man aufhören, jegliches unerwartetes Geschehen als "Krise" zu deuten, und stattdessen mit einem permanenten Gestaltwandel der Gesellschaft und damit auch einem Wandel der jeweiligen Anforderungen zu rechnen lernen. Gerade das legt jeweils die Wahl robuster Strukturen nahe und lässt Moden als das erscheinen, was sie sind: Moden nämlich. Ein Erfolgsindikator für eine stabile Demokratie in 20 Jahren wäre mithin, wenn Bürgergesellschaft wie Politik der Maxime folgen: "Don't believe the hype!"

Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel

Heinz Bude ist Professor für Makrosoziologie an der Uni Kassel

Foto: Uwe Zucchi/ picture alliance / dpa


Welche Faktoren lassen Angst vor dem Fremden in Hass auf den Fremden umschlagen?

Angst und Hass sind zwei grundverschiedene menschliche Reaktionsweisen, die sich so ohne weiteres gar nicht in einen Zusammenhang bringen lassen. In der Angst steckt ein Fluchtreflex auf eine als gefährlich empfundene Situation.

Hass hat Anlässe, die aber nicht als Grund für die Hassreaktion anzusehen sind. Wenn ich hasse, mache ich mich stark gegenüber einer anderen Person, die ich bedrohen, verunglimpfen oder auf sonstige Weise niedermachen kann. In der Regel ist dieser Andere aber kein konkreter Anderer, sondern ein konzeptioneller Anderer wie die Muslime, die Juden oder die Ungläubigen. Im Hass stärke ich meinen Selbstwert durch gruppenspezifische Menschenfeindlichkeit.

Woher kommt dieser Hass? Augenscheinlich aus dem Gefühl eines verunsicherten, angegriffenen oder erschütterten Selbstwertgefühls. Daher liegen die Gründe des Hasses nicht im Erleben von Angst, sondern in Erfahrungen von Degradierung, Ignorierung oder gezielter Sabotage der eigenen Person. Genau dies haben mein Kollege Ernst-Dieter Lantermann und ich bei einer Gruppe von Verbitterten in der deutschen Mittelklasse wiedergefunden. Diese Menschen stellen sich als hochgebildet dar, besitzen eine starke Überzeugung ihrer Kompetenzen und ihres Engagements und sehen sich als weltoffen an. Aber wenn sie heute etwas von einer Willkommenskultur gegenüber Fremden hören, können sie ihren Hass kaum zügeln. Sie sind nämlich von dem Gefühl beherrscht, dass sie aufgrund von Bedingungen, die sie selbst nicht kontrollieren konnten, unter ihren Möglichkeiten geblieben sind.

Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur

Rupert Neudeck, Gründer der Hilfsorganisationen Cap Anamur

Foto: Rainer Jensen/ picture alliance / dpa


Wie kann Integration gelingen?

Eine Integration kann nur gelingen, wenn sie vom ersten Tag des Betretens deutschen oder europäischen Bodens vorbereitet wird. Jeder, der in eine Erstaufnahme hineinkommt, muss ein Papier in die Hand bekommen in seiner Muttersprache. In dem Papier wird klar gesagt: Dieses Geschenk der Deutschen, dass man erst mal ohne Bezahlung eine Unterkunft, einen Schlafplatz und eine Vollversorgung plus Taschengeld bekommt, muss durch eigene Anstrengungen im Asylheim beantwortet werden. Man erwartet die Teilnahme an allen Veranstaltungen im Heim. Der Deutschunterricht muss besucht werden, es muss in den ersten Tagen fleißig Deutsch gelernt werden.

Es müssen alle Arbeiten im Haus oder Heim von den Flüchtlingen erledigt werden, auch die Toilettenreinigung. Es müssen kommunale Arbeitsdienste, auch ohne Bezahlung, geleistet werden. Ein solches Papier muss nach Lektüre unterschrieben werden. Es gibt wenige Fälle, in denen sich Flüchtlinge nicht bereitfinden, den Deutschunterricht zu besuchen. Dann muss ihnen gesagt werden, dass sie in diesem Fall wieder abgeschoben werden. Und das muss auch sofort durchgeführt werden.

Jeder Mensch lebt durch Tätigsein. Das schlimmste Hindernis der Integration sind die Untätigkeit und Passivität, zu denen das deutsche Asylbewerbersystem nicht nur neigt, sondern die es verfügt. Die Menschen, die hier auf ihr Einleben warten, dürfen bis zu 17 Monate nichts tun, dürfen sich außerhalb der Bannmeile ihres Ortes nicht bewegen. Sie werden geradezu stillgestellt. Das ist für die Entfaltung der Selbstorganisation und die Integration von Menschen in unsere Gesellschaft schmerzlich hinderlich.

Susan Neiman: Philosophin, Autorin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

Susan Neiman: Philosophin, Autorin und Direktorin des Einstein Forums in Potsdam

Foto: imago


Über die Sorge der jüdischen Gemeinden, die Ankunft muslimischer Flüchtlinge werde den Antisemitismus in Deutschland verschärfen:

Meine Antwort wird utopisch klingen, aber manchmal helfen nur utopische Antworten. Ich glaube, man sollte die Sorgen (von Teilen) der jüdischen Gemeinschaft sehr ernst nehmen - ernst genug, um daraus eine Gelegenheit zur Aussöhnung in mehrerlei Hinsicht zu machen.

Es liegt auf der Hand, dass arabische Diktaturen seit vielen Jahren auf eine alte Strategie zum Machterhalt setzen: Sie einigen ihre Untertanen, indem sie einen äußeren Feind heraufbeschwören. Bösartige Propaganda gegen den Staat Israel und gegen Juden im Allgemeinen zählt in weiten Teilen der muslimischen Welt zur Medien- und Schulbuchnormalität. Ebenso liegt auf der Hand, dass sich der Staat Israel in den vergangenen 15 Jahren so weit nach rechts und in Richtung Rassismus bewegt hat, dass oppositionelle Israelis mittlerweile das Wort "Faschist" als angemessene Bezeichnung für manche Mitglieder der Regierung betrachten.

Dem Rest von uns - Juden außerhalb Israels und Nichtjuden, die für Israels Recht auf ein Leben in Frieden eintreten, aber ohne eine ersprießliche Lösung für die Palästinenser keine Möglichkeit zum Frieden sehen - kommt der Konflikt zunehmend ausweglos vor.

Kann nun die Flüchtlingskrise ein Anlass zu neuer Hoffnung sein? Viele Juden setzen sich dafür ein, dass jüdische Gemeinden Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan mit offenen Armen empfangen. Das religiöse Gebot dazu findet sich im dritten Buch der Thora: "Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der Herr, euer Gott." (Levitikus 19, 34) Und wenn wir in eine weit jüngere Vergangenheit zurückblicken, sollten jene, deren Eltern und Großeltern von den Nazis, wenn sie Glück hatten, nur ins Exil gezwungen wurden, doch eine besondere Sensibilität für das Leid von Menschen haben, die vor Krieg und Fanatismus aus ihrer Heimat fliehen müssen.

Strategisch betrachtet wäre eine Willkommenskultur vonseiten der jüdischen Gemeinden Europas ein gutes Gegenbild zu den antisemitischen Klischees, die viele Flüchtlinge - wie viele andere Menschen auch - verinnerlicht haben. Auf diese Weise könnte der Kreislauf von Furcht und Hass zwischen der jüdischen und der muslimischen Welt durchbrochen werden.

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