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Ausland Türkische Offensive

Kurden – die ewigen Verlierer im Nahen Osten

Türkei setzt deutsche „Leopard 2“-Kampfpanzer ein

Der Weltsicherheitsrat berät in einer Dringlichkeitssitzung über die türkische Militär-Offensive in Nordsyrien. Die Türkei setzt dabei auch Waffensysteme deutscher Produktion ein. Die Bundesregierung wollte sich nicht dazu äußern.

Quelle: WELT/ Isabelle Bhuiyan

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Untereinander gespalten, von den Großmächten ausgenutzt oder im Stich gelassen, unterdrückt von den Staaten, in denen sie leben: Bisher war das das Schicksal der Kurden. Daran scheint sich derzeit nichts zu ändern

Weltweit gibt es 30 bis 45 Millionen Kurden und sie beschreiben sich oft als „das größte Volk ohne eigenen Staat“. Es ist eine Klage – und eine Forderung, die viele Kurden teilen. Es gab Zeiten in den 90er-Jahren, da verlangten die Kämpfer der als terroristische Vereinigung eingestuften PKK offen einen eigenen Staat. Inzwischen ist der Ton gedämpfter, von Demokratie und „Selbstbestimmungsrechten“ ist die Rede.

Dennoch lebt der Traum vom eigenen Staat bei den Kurden fort. Das eint sie in der Türkei, in Syrien, im Irak und im Iran. In diesen Ländern wird genau darauf geachtet, teilweise verbunden mit großer Grausamkeit, dass eben eine solche Chance auf ein eigenes Land sich gar nicht erst ergibt.

Das ist der eigentliche Grund, warum die türkische Armee am Wochenende mit ihrer Offensive gegen die Kurdenmiliz YPG – die von den USA im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) unterstützt wird – die kurdisch bevölkerte Provinz Afrin im Nordwesten Syriens überfiel. Ausdrückliches Ziel ist es, die Entstehung eines Kurdenstaates in Syrien zu verhindern. Offiziell gilt die „Operation Olivenzweig“ nach den Worten des türkischen Ministerpräsidenten Binali Yildirim der Einrichtung einer 30 Kilometer breiten Pufferzone.

Quelle: Infografik Die Welt

Die Militäroffensive ist nur das jüngste Kapitel einer langen Leidensgeschichte. Es scheint, dass die Kurden dazu verdammt sind, die ewigen Verlierer der blutigen Machtkämpfe im Nahen Osten zu bleiben.

In der Folge des Ersten Weltkriegs wurden nicht nur die in der Türkei lebenden Armenier deportiert, sondern auch zahlreiche Kurden. Unter anderem in das Gebiet des heutigen Syriens, weshalb es in Afrin eine große kurdische Bevölkerungsgruppe gibt. Auch im Irak wurden Kurdenaufstände seit den 60er-Jahren immer wieder blutig niedergeschlagen. Bis Saddam Hussein die Volksgruppe von Halabdscha 1988 mit Giftgas bombardieren ließ, nahm im Westen niemand sonderlich Notiz davon.

Viele Kurden sehen sich als Nachfahren der Meder, eines indoeuropäischen Volksstammes aus vorchristlichen Zeiten. Der im Westen historisch bekannteste Kurde dürfte Sultan Saladin sein, der im 12. Jahrhundert Jerusalem von den Kreuzrittern zurückeroberte.

Weitgehend autonom im Osmanischen Reich

Aber sind die Kurden eine Nation? Kurden lebten lange in Clangesellschaften, gegliedert in Stammesgruppen mit teilweise unterschiedlichen Sprachen. Erst Ende des 19. Jahrhunderts formulierte Scheich Ubeydallah den Anspruch auf einen Staat für die Kurden und wurde in der Folge sowohl von den Osmanen als auch von den Iranern militärisch besiegt.

Seine Forderungen lebten nach dem Ersten Weltkrieg wieder auf, als es so schien, als ob nach dem Osmanischen Reich auch die geschwächte Rumpftürkei zerfallen könnte. Im später revidierten Vertrag von Sèvres (1920) sicherten die Siegermächte den Kurden das Recht auf Selbstbestimmung zu.

In den 20er- und 30er-Jahren gab es Aufstände der Kurden, die vom türkischen Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk niedergeschlagen wurden. Er wollte die Türkei zu einem säkularen, zentralistischen Nationalstaat machen. Das lief den Interessen der örtlichen Kurdenführer zuwider, die fromme Muslime waren und unter den Osmanen weitgehende Autonomie genossen hatten.

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Eine übergreifende nationale Identität im modernen Sinne konnte sich kaum entwickeln. Kurden erhoben sich zwar gegen die Regierungen der Staaten, in denen sie lebten. Es waren aber weniger Nationalbewegungen, als vielmehr Angelegenheiten der Stämme, als deren Angehörige sie sich in erster Linie verstanden.

Eine eigene Identität als Kurden bildete sich erst nach dem Guerillakrieg der zunächst marxistischen PKK heraus, die ab Mitte der 80er-Jahre in Erscheinung trat. Ihr bewaffneter Kampf – und das harte Vorgehen der Türkei dagegen – schufen „ideelle Werte im Volk“, wie PKK-Vordenker Delil Karakocan in einem seltenen Interview 2005 formulierte.

Die kollektive Identität der Kurden, insofern sie heute existiert, ist tatsächlich eine Folge ihrer Blutopfer in den Auseinandersetzungen mit Türken, Irakern, Syrern – oder mit dem IS. In den 90er-Jahren kämpften im Nordirak noch Talabani-Kurden gegen Barzani-Kurden und beide, wenn es sich so ergab, gegen die PKK, die im nordirakischen Kandil-Gebirge ihre Rückzugsgebiete hatte. Heute wäre das nicht mehr denkbar. PKK-Kämpfer aus der Türkei und nordirakische Peschmerga halfen den belagerten syrischen Kurden von Kobane, als der IS sie 2015 zu vernichten drohte. Allmählich fühlen sich die Kurden einander zugehörig, als Volk.

Gespaltene Gesellschaft

Dennoch bleibt die kurdische Gesellschaft außerordentlich gespalten. Gut die Hälfte der türkischen Kurden, überwiegend fromme Muslime oder tolerantere Aleviten, sympathisieren eher mit dem türkischen Staat als mit der radikalen PKK. Auch den der konservativen Stammeskultur der Kurden im Nordirak läuft deren linke Ideologie zuwider.

Neben ihren eigenen Rivalitäten war das größte Problem einer kurdischen Identität immer die Tatsache, dass diese „Nation“ auf vier bestehende Regionalmächte verteilt war. Im Nordirak existiert ein autonomes, nominell nicht von Bagdad unabhängiges „Kurdistan“. Im syrischen Bürgerkrieg hat sich im Nordosten des Landes ein kurdischer Protostaat, die Vorstufe eines Staates, etabliert.

In den Kriegen gegen Iraks Diktator Saddam Hussein sowie später gegen den IS haben sich die Kurden einen wertvollen Trumpf erworben: das Vertrauen der USA. So schien sich eine historische Chance für die Herausbildung eines kurdischen Staates abzubilden.

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Aber der Irak ist nicht mehr so schwach, wie er einst war. Als die Führung des nordirakischen Autonomiegebiets der Kurden 2017 ein Unabhängigkeitsreferendum abhielt, war die Folge ein Einmarsch der irakischen Armee und der Rücktritt der kurdischen Führung. Und die Regionalmacht Türkei zeigt einmal mehr, dass sie notfalls bereits ist, hart durchzugreifen. Bleibt abzuwarten, wie sich die Amerikaner verhalten.

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Nach dem ersten Golfkrieg ermutigten sie die Kurden, sich gegen Saddam Hussein zu erheben und sahen danach tatenlos zu, als er sich an ihnen rächte. Jetzt verkündeten die USA die Bildung einer kurdischen Grenzschutztruppe in Syrien. Die Reaktion darauf war der türkische Einmarsch in Afrin. Von einer Grenzschutztruppe ist in Washington seither nicht mehr die Rede.

Untereinander gespalten, von den Großmächten ausgenutzt oder im Stich gelassen, unterdrückt von den Staaten, in denen sie leben – bisher war das das Schicksal der Kurden, und vorerst scheint es dabei zu bleiben.

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